Die Geschichte des Professor Raat ist sicher vielen bekannt, nicht zuletzt durch die Verfilmung unter dem Titel „Der blaue Engel“. Seine Autorität baut dieses Erzbild des verstockten Gymnasiallehrers einzig auf seinen Titel und sieht sich umso mehr bedroht von subversiven Schülern, die ihm den Namen „Unrat“ anhängen. Dieser wenig schmeichelhafte Name hängt ihm nun schon seit Jahrzehnten nach und in seiner kleinen Heimatstadt sieht er sich umzingelt von Feinden, stets besorgt, irgendwo auf der Straße mit dem verhassten Spitznamen angesprochen zu werden. Der hat sich inzwischen fest etabliert, auch bei jenen, die schon lange nicht mehr zur Schule gehen. Dass viele ehemalige Schüler ihm durchaus nostalgische Wertschätzung entgegenbringen und ganz gerne an die Tage in seiner Klasse zurückdenken, merkt er nicht. Er nimmt den kleinsten Angriff auf seine Autorität so persönlich, dass er auf nicht weniger als Vernichtung sinnt und viel Energie darauf verwendet, verhassten Schülern den zukünftigen Lebensweg zu erschweren.
„Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehaßt wußte, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug ‚hineinlegen‘ und vom ‚Ziel der Klasse‘ zurückhalten konnte.“
Anlass zum Ärger geben ihm im aktuellen Jahrgang vor allem die Schüler Ertzum, Kieselack und Lohmann, die er allein schon deswegen hasst, weil sie ein leichteres Leben haben als er. Zu allem Überfluss pflegen sie auch Umgang mit einer fragwürdigen Künstlerin, der schönen „Barfußtänzerin“ Rosa Fröhlich. Sie gastiert gerade in einem der wenigen feinen Theater der Stadt. Um Aufklärung bemüht sucht Unrat die Künstlerin mit einigem Aufwand auf, will ihr die Leviten lesen und verfällt ihr an nur einem Abend. Sein Untergang ist damit besiegelt.
Mit Professor Unrat erschafft Heinrich Mann einen Provinz-Tyrannen, dem man sein im Untertitel versprochenes Ende von Herzen gönnt. Er ist eine einzige Karikatur des wilhelminischen Spießers, der das Chaos und die Unruhen der erstarkenden Sozialdemokratie fürchtet wie wenig anderes. Dass die Sozialdemokraten vielleicht auch eine Stütze sein könnten für ihn, der sich täglich über sein mageres Gehalt beklagt, ist ihm dabei egal. Recht und Ordnung gehen eben vor persönlichem Glück. Umso tragischer ist es da, dass sein Leben in reinster Anarchie enden soll. Sein verzweifeltes nach unten Treten kennt keine Grenzen, über den Spott der verhassten Schüler kann er nicht stehen. Einigen ehemaligen Schülern gönnt er nicht weniger als den Tod dafür, dass sie seinen Namen verunglimpft haben. Für diese Hauptfigur kann man eigentlich nur Verachtung aufbringen, Heinrich Mann aber stellt seinen Professor immer so dar, dass er lächerlich und unterhaltsam ist.
Im Hörbuch gelingt es Dieter Mann, den fein bis beißend ironischen Unterton des Romans treffend wiederzugeben. Er liest Professor Unrat mit Schwung und stimmigen Nuancen. Einzig an den norddeutschen Dialekten der Stadtbevölkerung scheitert er hin und wieder, was allerdings verschmerzbar ist, wenn auch ein bisschen ärgerlich, da der Text eben diesen Dialekt an vielen Stellen eigentlich gar nicht verlangt. Aber ob nun gelesen oder gehört, ist Professor Unrat mit Sicherheit einer der Romane, die auch über hundert Jahre nach ihrem ersten Erscheinen noch aktuell und unterhaltsam und in jedem Fall eine Bereicherung sein können.
tl;dr: Professor Unrat ist ein schwung- und humorvoller Klassiker, dem zu wünschen ist, dass er möglichst wenigen als öde Schullektüre in Erinnerung bleibt.
Heinrich Mann: Professor Unrat. Fischer 2011, 231 Seiten. Erstausgabe 1905 bei Albert Langen. Gehört in der bei argon 2012 erschienen, ungekürzten Fassung. Gelesen von Dieter Mann, Laufzeit ca. 8 Stunden.
Das Zitat stammt von S. 13.