Furchtlos dank Blutegel – „Angstfresser“ von Grit Poppe

Kyra, eine junge Frau, die in Berlin lebt, kriegt ihre Angstzustände einfach nicht in den Griff. Ein normales Leben ist für sie nicht möglich, solange sie nicht das Trauma aufarbeitet, das tief in ihr steckt. Nach Jahren mehr oder weniger erfolgloser Therapien trifft sie zufällig auf eine Frau, die verspricht, ihr mit Traditioneller Chinesischer Medizin helfen zu können. Sie hat einen Angstfresser, einen Hirudo Timor, der sich an Menschen fest- und ihre Angst aussaugt. Ein bisschen skeptisch aber bereitwillig lässt Kyra sich auf einen Therapieversuch ein, nicht ahnend, in welche Verstrickungen sie sich damit begibt.

Poppe - Angstfresser

Parallel zu ihrer wird die Geschichte von Hans erzählt, der 1986 aus der DDR geflohen ist. Er nutzte das Vertrauen der Tochter eines Freundes, die ihm half, die Mauer zu überwinden. Kaum auf der anderen Seite angekommen, trifft er eine Frau, in die er sich verliebt und mit der er einige Jahre zusammenlebt. Der Fall der Mauer jedoch und seine Unfähigkeit, damit umzugehen, setzen der Beziehung ein Ende.

Kyras Trauma-Verarbeitung gerät bald fast zum Thriller. Bei einem Besuch findet sie die Wohnung der Heilerin verwüstet, die Frau selbst ist samt Töchtern spurlos verschwunden. Kyra bleibt mit ihrem Angstfresser hilflos zurück. Hans, der ebenfalls mal einen Angstfresser mit sich herumgetragen hat, weiß zwar keinen guten Rat, aber immerhin, dass die Heilerin Feinde hat, die es auf den Hirudo Timor abgesehen haben. Denn der kann wirklich alle Angst fressen. Und furchtlose Menschen sind gefährliche Menschen. Das hat man in der Heimat der Heilerin schon lange erkannt.

Die Idee des Angstfressers ist ein bisschen gruselig, aber praktisch. Das Tier sitzt am Bauch, dort wo man die Angst oft als erstes spürt, und saugt sie einfach weg. Kurz leidet Kyra unter den Nebenwirkungen. Albträume und Halluzinationen machen ihr zu Schaffen und die Tatsache, dass sie unter ihrem Shirt ein stetig wachsendes Tier mit fünf Augenpaaren verbirgt, stört ihr Liebesleben ganz empfindlich.

„Ich bin allein. Allein mit dem Hirudo Timor. Mit dem Angstfresser, der Tag und Nacht an mir klebt. Was wird aus ihm, wenn er mit mir fertig ist? Was wird aus mir?“

Die Grundidee des Romans ist gelungen, die phantastischen Elemente gut eingebunden. An vielen Stellen kann man sich ein paar Zeilen lang nicht sicher sein, ob das Geschilderte real ist oder der Phantasie der Protagonistin entspringt. Die Unsicherheit  und Haltlosigkeit Kyras wird damit gut dargestellt. Woher ihr Trauma und ihre Ängste kommen, wird erst sehr langsam klar.

Ganz rund ist der Roman aber trotzdem nicht. Gerade Kyras Trauma, das ja nun zentral für das Buch ist, bleibt hinter Andeutungen zurück und bleibt ein wenig unscharf, auch wenn man sich vieles erschließen kann. Ihre Angst und die von Hans sind die Hauptthemen des Romans. Die thriller-hafte Verfolgung der Heilerin gerät dabei manchmal so sehr in den Vordergrund, dass sie diese Handlungsstränge zur Seite drängt und den Roman ins Schleudern bringt. Stilistisch merkt man dem Roman auch an, dass die Autorin sonst vor allem Jugendbücher schreibt, wobei man ihr keine mangelnde Komplexität vorwerfen kann. Außerdem gibt es für ein Jugendbuch viel zu viel Sex. Die Stärke von Angstfresser ist vor allem die originelle Idee des kleinen Monsters, das sich von Furcht und Sorgen ernährt. Der phantastische Blutegel schafft es sogar, trotz einiger Schwächen einen ganzen Roman zu tragen.


Grit Poppe: Angstfresser. Mitteldeutscher Verlag 2020. 351 Seiten, € 20,-.

Das Zitat stammt von S. 84.

Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar, das mir zur Verfügung gestellt wurde.