Es ist eine märchenhafte Welt, in der Ilana aufwächst, in einem abgelegenen Dorf inmitten verschneiter Wälder. Man kann erahnen, dass es irgendwo in Sibirien sein könnte. Schon in ihrer Kindheit erlebt sie Unglaubliches. Ihr Bruder Ari ist so groß und stark wie ein Bär, die Mutter hat heilende Kräfte und Menschen sind von Dibbukim besessen. Als Ilana es nicht mehr aushält in der Enge des Dorfes, macht sie sich auf zu einem Hafen, von dem sie gehört hat. Von dort sollen Schiffe in eine andere Welt fahren.
Budnitz erzählt im Grunde eine Auswanderungsgeschichte, das aber in großen Teilen geprägt von Phantastik und magischem Realismus. Was wahr ist und was nicht, ist nicht immer leicht herauszufinden. Man kann sich aus den verschiedenen Geschichten allerdings erschließen, dass Ilana kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa ein Schiff besteigt, das sie und ihren Mann in die USA bringt, wahrscheinlich nach New York. Die Geschichte folgt Ilana und ihren weiblichen Nachkommen noch drei Generationen lang, bis zu ihrer Urgroßenkelin Naomie.
Getragen wird der Roman allerdings nicht von dieser Handlung, die eigentlich nur eine untergeordnete Rolle spielt, sondern vor allem von den teils kaum glaubwürdigen Geschichten, in denen die Frauen leben und von denen oft nicht klar ist, ob die jeweilige Erzählerin sie selbst glaubt. Das Erbe Ilanas haftet den Frauen an, so sehr sie auch versuchen, sich dem neuen Leben in Amerika anzupassen. Besonders Sasha, die als erste in den USA geboren wird, versucht verzweifelt, eine Amerikanerin zu sein. Doch ihre Mutter will sie einfach nicht Shirley nennen und die dicken, schwarzen Haare werden niemals die blonden Locken sein, von denen sie träumt. Den folgenden Generationen ergeht es nicht besser. Es gelingt den Frauen nicht, das Erbe der Vergangenheit abzuschütteln. Es gelingt ihnen noch nicht einmal, das Viertel zu verlassen, in dem Ilana und ihr Mann ihre erste Wohnung bezogen haben.
„It frightens me that I can no longer tell which tales have been told to me by others and which I have witnessed myself.
They all have a ring of truth.“
Die Welt in If I Told You Once ist bevölkert von phantastischen Figuren, von Meerjungfrauen, Werwölfen und einer Stadtreinigung, die alles und jeden verschwinden lässt, der nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen ist. Einige Episoden erinnern an Geschichten aus Angela Carters The Company of Wolves, in anderen spiegeln sich Volksmärchen und urbane Legenden. Es ist ein Roman über Mütter und Töchter, über Frauen, die voneinander abhängig sind, so sehr sie sich auch die Freiheit wünschen, deren Geschichte zu sehr miteinander verwoben sind. Sie alle erzählen ihre Geschichten abwechselnd, jeweils in der Ich-Perspektive. Sie wiederholen aus einem anderen Blickwinkel, ergänzen und widersprechen zum Teil dem, was die anderen drei als Wahrheit verkaufen. Mit diesem Roman hat Budnitz ein sorgfältig komponiertes Märchen geschrieben, dessen düstere, entrückte Atmosphäre mit der realen Welt kaum etwas zu tun hat. Nur manchmal kann man in den Geschichten Parallelen zu historischen Ereignissen entdecken und so zumindest grobe Eckpunkte feststecken. If I Told You Once ist eine Geschichte über die Bedeutung und die Essenz von Geschichten, erzählt in einem präzisen, bildreichen und atmosphärisch dichtem Stil.
Judy Budnitz: If I Told You Once. Flamingo 2000. Erstausgabe Picador 1999. Lieferbar bei Flamingo. Eine deutsche Übersetzung von Brigitte Heinrich ist unter dem Titel Das Echo meiner Schritte bei Insel und Diana erschienen. Diese Ausgaben gibt es nur noch antiquarisch.
Das Zitat stammt von S. 251.
Mit diesem Roman war Budnitz 2000 auf der Shorlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekt Women’s Prize for Fiction.