Castle Freeman: Männer mit Erfahrung

Mitten in den Wäldern von Vermont wohnt Lillian, seit kurzem allein. Ihr Freund Kevin ist abgehauen nachdem es Ärger mit dem Gesetz gab. Das Gesetz ist in dem verschlafenen Ort nicht zwingend die Polizei, sondern erstmal Blackway, ein Kleiderschrank von einem Mann, der vor nichts und niemand halt macht und es gewohnt ist, seinen Willen zu kriegen. Nun rückt er Lillian auf die Pelle. Er steht im Auto vor ihrem Haus und beobachtet sie, schlägt eine Scheibe ihres Wagens ein und bringt zu guter Letzt auch noch ihre Katze um. Lillian verliert die Nerven, stürmt mitten in der Nacht mit einem Obstmesser bewaffnet aus dem Haus und sucht Hilfe beim Sheriff des Ortes. Tja, sagt der, ohne Beweise können man halt nicht viel machen. Er rät ihr, sie solle halt abhauen. Lillian sieht das aber nicht ein, schließlich hat sie nichts falsch gemacht.  Schließlich verweist man sie an Whizzer, einen kauzigen alten Mann, der mit seinen Freunden den ganzen Tag in einer alten Fabrik die Zeit totschlägt. Die Hilfe, die Whizzer hat, ist auch nicht, was Lillian sich vorstellt: Nate, ein großer junger Mann, der klüger als ein Pferd aber dümmer als ein Traktor sein soll und Lester, der unschätzbaren Alters ist und nur noch schlecht zu Fuß. Aber das ist die Hilfe die eben gerade da ist und so heftet das merkwürdige Trio sich an Blackways Fersen.

„‚Tja‘, sagte Whizzer, ‚ich weiß nicht, ob sie dumm oder intelligent ist und ob es hier gefällt oder nicht – jedenfalls ist sie da. Und noch was sage ich euch: Mir scheint, diesmal ist Blackway an die Falsche geraten.'“

Der namenlose Ort scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Es überrascht einen fast, wenn Menschen plötzlich von Videorekordern spreche. Denn so, wie sie in ihrer aufgegeben Fabrik sitzen, Bier trinken und Poker spielen, hätten sie es auch vor hundert Jahren tun können. Der wichtigste Wirtschaftszweig der Region ist noch immer der Holzabbau, und auch wenn die Stämme nun nicht mehr von Pferden aus dem Wald gezogen werden, ist in den Wäldern von Vermont vor langer, langer Zeit die Uhr stehengeblieben zu sein. Fremden gegenüber ist man noch immer misstrauisch und unterstellt Menschen aus der Stadt grundsätzlich erstmal, sie hielten sich für etwas besseres.

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Aggressivität und Brutalität gehören zum Alltag der Männer. Große Kneipenschlägereien, gerne mit Knochenbrüchen und mehreren Bewusstlosen, zählen zu den wenigen aufregenden Ereignissen im Jahr und sind etwas, worüber man auch Monate später noch gerne spricht. Dementsprechend geizt auch das Buch nicht mit Szenen, in denen es etwas brutaler zugeht. Diese Gewalt ist aber ein so selbstverständlicher Teil der Geschichte, dass man sich darüber gar nicht groß wundert und schnell einsieht, dass es offenbar die einzige Lösung ist. Sogar Lillian sieht das bald ein, nachdem ihr bei der ersten Schlägerei, die ja quasi in ihrem Auftrag geschieht, doch ein wenig anders geworden ist. Abgemildert wird der recht raubeinige Umgang miteinander durch sehr viel Humor, der manchmal fast ins Absurde kippt. Während Lillian, Les und Nate versuchen Blackway zur Strecke zu bringen, bleiben die übrigen Männer in der Fabrik und führen wortkarge Gespräche, die sich immer im Kreis drehen, und die sie vermutlich auch schon das vierhundertste Mal führen, denn neue Themen sind rar. Also, wie war das das nochmal, als man Blackway bei dieser Kneipenschlägerei einen Stuhl übergezogen hat?

Männer mit Erfahrung ist ein smart konstruierter Roman, der eine ganz eigene Gesellschaft porträtiert, die tief im Wald verwurzelt ist und in die auch der Wald seine Wurzeln geschlagen hat. Nirgendwo anders könnte sie existieren, nirgendwo anders könnten ihre Gesetze gelten. Freeman gelingt es, überzeugend die Besonderheiten einer Siedlung einzufangen, die sich hinter dichten Baumreihen erfolgreich vor der Modernität versteckt.


Castle Freeman: Männer mit Erfahrung. Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. dtv 2018, 170 Seiten. Die Originalausgabe ist 2008 unter dem Titel Go With Me erschienen.

Das Zitat stammt von S. 60

Ein Gedanke zu “Castle Freeman: Männer mit Erfahrung

  1. andreaschopfbalogh 26. September 2018 / 14:47

    Eine sehr eigenartige Atmosphäre – ganz toll beschrieben. Mein Interesse ist jedenfalls geweckt, danke dafür! Liebe Grüße, Andrea

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