Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so

„Das gebrochene Herz, vor dem er weggelaufen ist, hat ihn eingeholt. Endlich.“

Früh am Morgen bricht Kweku Sai im Garten seines Hauses in Accra zusammen und stirbt an einem Herzinfarkt. Kweku, gefeierter Chirurg, der die Symptome kannte und hätte erkennen können, sogar müssen. Tausende Kilometer entfernt in Boston versteht sein Sohn Olu nicht, wie das passieren konnte. Jetzt ist es an ihm, seine Geschwister Sadie, Taiwo und Kehinde zusammenzutrommeln, damit sie alle zur Beerdigung des Vaters reisen können, des Vaters, der die Familie vor langer Zeit verlassen hat. Er hat Frau und Kinder und eine Menge Schulden in Boston zurückgelassen und ist zurückgegangen nach Ghana, wo er mit einer neuen Frau lebte. Verstehen und verzeihen konnte das niemand.

Auch Mutter Fola lebt mittlerweile wieder in Ghana, wo sie ein Haus geerbt hat. Dort treffen sich nun die Kinder der Famile Sai, um ein weiteres Mal Abschied vom Vater zu nehmen. Schon die Verteilung der Schlafzimmer endet in einer Krise. Zu viele unausgesprochene Konflikte und Verletzungen stehen im Raum, alle sind vorsichtig darauf bedacht, niemandem auf die Füße zu treten und keine Grenzen zu übertreten. Was dann aber natürlich doch passiert.

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Die Kinder der Sai-Familie sind alle in den USA beheimatet und größtenteils auf ihre Art erfolgreich, „lebendig, wenn auch nicht unbedingt in bester Verfassung“, wie es ihre Mutter zusammenfasst. Die familiären Bande haben in den letzten Jahren arg gelitten, vor allem die Beziehung zwischen den Geschwistern Kehinde und Taiwo, die früher die Gedanken des anderen hören konnten, ist merklich abgekühlt. Nach dem Weggang des Vaters wurden sie von Fola nach Nigeria geschickt, zu einem reichen Bruder, der für ihre Schulgebühren aufkommen sollte. Diese Zeit wurde zu einer schrecklichen Zäsur im Leben der Zwillinge, von der sie sich nie wieder erholen konnten. Doch auch ihre Geschwister haben mit der Vergangenheit zu kämpfen, mit komplizierten Beziehungen und Verletzungen, auch innerhalb der Familie, die seit Kwekus wortlosem Abschied nie mehr komplett, nie mehr ein Ganzes sein kann. Trotz Monaten ohne auch nur ein einziges Telefonat bleiben die Sais aber immer auf die eine oder andere Art miteinander verbunden und ein Teil, wenn auch ein fehlendes, im Leben der anderen.

Selasi schreibt von diesen Ereignissen in einem sehr eigenen Stil. Es gelingt ihr, Atmosphäre aufzubauen und Entwicklungen nachvollziehbar zu machen, dabei aber auch genug im Dunkeln zu halten, um Spannung aufzubauen. Neben den familiären Spannungen thematisiert sie die afrikanische Diaspora, die Nachkommen der Ausgewanderten, die sich in ihrer Heimat, die sie mitunter als einzige Heimat kennen, noch immer mit Vorurteilen konfrontiert sehen. Die härter kämpfen müssen und immer wieder unter Beweis stellen müssen, dass sie klug, fähig und gut ausgebildet sind, auch wenn sie aus Afrika stammen. Dass sie eine Familie ernähren und einer Frau treu sein können. In ihrem Essay „Bye-Bye, Babar“ prägte Selasi 2005 den heute weit verbreiteten Begriff „Afropolitan“. Sie bezeichnet damit eine internationale, moderne afrikanischstämmige Community, die sich nicht mehr über die angebliche Rückständigkeit ihrer Herkunftsländer definiert sehen will. In ihrem Roman setzt sie sich über ihre Figuren mit dieser Thematik auseinander.

Diese Dinge geschehen nicht einfach so ist ein erfreulich unkitschiger und stilistisch guter und ausgefallener Familienroman, der das Genre nicht neu erfindet, aber doch zumindest gut ergänzt. Selasi springt und mäandert, man kann ihr dabei aber durchaus folgen und es lohnt sich. Der Originaltitel Ghana Must Go bezeichnet im nigerianischen Sprachgebrauch übrigens primär eine sehr große Tasche aus Plastik. Diese Taschen wurden von der ghanaischen Bevölkerung genutzt, als sie in großem Maße in den 1980ern als illegale Immigranten aus Nigeria ausgewiesen wurden. Die Taschen sind billig, geräumig und stabil und machen sie zum idealen Transportmittel für alle, die sich wenig leisten können, aber viel transportieren müssen. In Mitteleuropa sieht man diese Taschen meinem subjektiven Empfinden nach vor allem an Busbahnhöfen mit internationalem Fernverkehr zum Ende der Erntesaison.


Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so. Übersetzt von Adelheid Zöfel.  Fischer TB 2017. 397 Seiten, € 12,-. Originaltitel: Ghana Must Go. Penguin 2013.

Das Zitat stammt von S. 112

8 Gedanken zu “Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so

  1. Prinzessin Karl 27. Februar 2018 / 11:43

    Für diese filigran erzählte Geschichte, die sehr genau auf die psychischen und beziehungsmäßigen Auswirkungen erlebter Gewalt schaut, kann nicht genug Werbung gemacht werden. Mich hat der Roman jedenfalls wesentlich stärker beeindruckt als Americanah von Chimamanda Ngozie Adichie, der ja auch viel über schwarze Lebenswirklichkeiten zwischen Afrika und Migration erzählt. Toll, dass es dieses Buch jetzt als Taschenbuch gibt.

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    • Marion 27. Februar 2018 / 23:26

      „Americanah“ mochte ich auch sehr gerne. Wobei ich da die Familie weit weniger im Fokus sehe, als in diesem Roman. Natürlich spielt die auch eine Rolle,der Schwerpunkt liegt aber ziemlich eindeutig auf Ifemelu und ihren Beziehungen, auch außerhalb der Familie. Familiäre Gewalterfahrungen spielen bei Adichie eher bei „Purple Hibiscus“ eine Rolle. Aber auch da gibt es eine starke Konzentration auf einzelne Figuren, während ich diese Geschichte hier ausgewogener erzählt fand.
      Wenn ich es ganz einfach herunterbrechen müsste, würde ich sagen, dass Selasi subtiler und Adichie brutaler ist. Adichie liegt mir persönlich ein kleines bisschen mehr, dennoch verdient Selasi auch jede Werbung und Aufmerksamkeit.

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  2. thehateyougive 27. Februar 2018 / 20:33

    Ich behaupte immer noch, dass Fischer dem Buch mit dem Cover keinen Gefallen getan hat.
    Sehen kann man die Tasche auch, wenn man die polnische Betreuungskraft von Oma & Opa zum Busbahnhof fährt (ist aber jetzt auch zehn Jahre her, vielleicht hat sich da was geändert).

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    • Marion 27. Februar 2018 / 22:39

      Überhaupt keinen Gefallen hat der Verlag sich mit diesem völlig nichtssagenden Cover getan!

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  3. letteratura 27. Februar 2018 / 22:17

    Ich habe mal wieder an den Roman selbst kaum eine Erinnerung, weiß aber noch, dass er mir sehr gefallen hat. Eine schöne Erinnerung Deinerseits. Der deutsche Titel ist ja mal wieder sehr nichtssagend, ich hatte damals auch registriert, dass das Original ganz anders war, allerdings ohne dem weiter auf den Grund zu gehen. Viele Grüße!

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    • Marion 27. Februar 2018 / 22:39

      Von dem Hintergrund des Titels habe ich auch nur zufällig erfahren. Ich habe ein Interview mit Selasi gelesen, in dem sie berichtet hat, dass sie mit dem Titel nur auf die Taschen abzielte und diesen Namen als Sinnbild für migratorische Bewegungen vor allem auf dem afrikanischen Kontinent betrachtet hat. Von der wahren Bedeutung hat sie dann erst von ihrer Mutter erfahren, die, wenn ich mich nicht täusche, selbst von dieser „Ghana must go“-Bewegung betroffen war.

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      • letteratura 27. Februar 2018 / 22:41

        Danke für die Info, interessant!

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