Amelia Earhart, in Deutschland weit weniger bekannt als in den USA, war eine Flugpionierin und Frauenrechtlerin. 1927 überquerte sie als erste Frau den Atlantik in einem Flugzeug, da allerdings noch als Passagierin. 1929 war sie Teilnehmerin des Women’s Air Derby, das in der Presse spöttisch als „Powder Puff Derby“, als „Puderquastenrennen“ bezeichnet wurde. Wütend berief Earhart eine Versammlung von Pilotinnen ein, die den Luftfahrt-Club „Ninety-Nines“ gründeten, um Frauen in der Luftfahrt zu fördern. 1930 wurde sie die erste Präsidentin der Vereinigung, die bis heute besteht. 1937 wollte sie im Flugzeug die Welt umrunden, verscholl aber im Pazifik östlich von Papua-Neuguinea. Dass weder das Wrack ihres Flugzeugs noch sterbliche Überreste der Pilotin gefunden oder eindeutig identifiziert werden konnten, lässt viel Raum für Spekulationen.
Eine dieser Spekulationen ist Jane Mendelsohns 1996 erschienener Roman Himmelstochter. In ihm lässt sie die Pilotin mit ihrem offenbar recht nutzlosen Navigator Noonan auf einer einsamen Insel bruchlanden aber überleben. Den Einstieg in den Roman bildet eine Beschreibung von Earharts glamourösen Alltag. Als waghalsige Pilotin, Buchautorin und Gattin eines wichtigen Verlegers war sie zu ihrer Zeit tatsächlich ein kleiner Star, ihre Auftritte in der Öffentlichkeit sorgsam inszeniert. So sorgsam, dass die Autorin uns gerne mit Details der Bekleidung versorgen möchte. Silberne Puderdose, kalbslederne Schuhe mit halbhohem Absatz, fließendes Baumwollkleid. Die Beschreibungen von Earharts Aussehen machen einen enervierend großen Teil der ersten Kapitel aus. Mit Seidenschal, Lederjacke und Fliegerbrille startet Earhart schließlich zu ihrer Weltumrundung mit Fred Noonan.
Unterwegs geraten die beiden fortwährend in Streit, vor allem weil sie von seiner Trinkerei und Unzuverlässigkeit genervt ist. Auf dem letzten Teil des Fluges schließlich verlieren sie gänzlich die Orientierung, das Benzin wird knapp und das Funkgerät streikt. Auf einer kleinen und unbewohnten Insel kann Earhart das Flugzeug gerade noch runterbringen. Von nun geht es für sie und Noonan ums nackte Überleben. Sie fangen Fische, konstruieren eine Möglichkeit der Trinkwassergewinnung und hoffen auf Rettung. Die Skills, die beide haben oder auf der Insel entwickeln, sind bemerkenswert. Ohne weiter genanntes Werkzeug kann Earhart eine Hütte bauen, ein Kissen aus einem Seidenrock nähen und Besteck schnitzen. Außerdem haben die beiden das unwahrscheinliche Glück, dass ihnen dabei nichts passiert und sie von Krankheiten und Verletzungen verschont bleiben. Das ist nicht realistisch, aber schön.
„Aber sie hatte das Gefühl, ihr ganzes Leben schon hinter sich zu haben, nachdem sie den Atlantik im Alleinflug überquert und mehrere Weltrekorde aufgestellt hatte, und sie hatte niemanden, der ihre Traurigkeit verstanden hätte, am wenigsten ihr Mann.“
Earharts größte Freude wird es, die unwahrscheinlich süße Kokosmilch zu trinken und das zuckersüße Fruchtfleisch der Nüsse zu essen. Ich will ja nicht nörgeln, vielleicht verfügt Mendelsohn über unschlagbare Kokos-Expertise, aber Kokosmilch enthält noch weniger Zucker als Kuhmilch und das Fruchtfleisch schmeckt auch äußerst unspektakulär. Bei einem starken Gewitter hat Earhart Angst, das schützend am Strand stehende Flugzeug aufzusuchen, weil sie einen Blitzschlag fürchtet. Da fliegt das Hascherl seit Jahren und keiner sagt ihr, was ein faradayscher Käfig ist. Und so geht es weiter – die Protagonistin des Romans ist erstaunlich stumpf und rennt von einem Logikfehler zum nächsten.
Das ist wirklich schade, denn stilistisch ist Mendelsohn eigentlich ganz gut dabei. Den ganzen Roman über wechselt eine beschreibende Erzählerstimme mit der berichtenden von Earhart, was oft interessante und überraschende Perspektivwechsel mit sich bringt. Allerdings gleichen die beiden Stimmen sich auch sehr im Ausdruck. Der Stil ist ein sehr poetischer und viele Formulierungen sehr treffend und ausgefeilt, manchmal aber artet diese Poesie auch in harten Kitsch und Kalenderweisheiten aus.
Das spekulative Weiterleben von Earhart gerät zu einem Selbstfindungstrip vor Südsee-Kulisse mit kitschigem Ausgang und massiven Logikfehlern. Die weltbekannte Pilotin, die von allen frenetisch gefeiert wird, erkennt, dass sie hinter der schillernden Fassade eigentlich immer sehr unglücklich war. Kein sehr überraschender Ansatz. Aus dem Verschwinden der großen Flugpionierin hätte man sicher einiges mehr rausholen können. Schade drum.
Jane Mendelsohn: Himmelstochter. Übersetzt von Irene Rumler. Rowohlt Taschenbuch 1999. 159 Seiten. In deutscher Übersetzung nicht mehr lieferbar. Originalausgabe: I was Amelia Earhart. Alfred A. Knopf 1996. Auch im englischen Original wird das Buch derzeit nicht verlegt.
Das Zitat stammt von S. 28
Mit diesem Roman war Mendelsohn (warum auch immer) 1997 für den Orange Prize for Fiction nonimiert. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Ms Earhart finde ich spannend, aber auf Selbstfindungs-Amelia mit Kokos-Problemen hab ich glaub ich doch nicht genug Lust. Wieder einmal wunderbar unterhaltsam geschrieben 🙂
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Earhart selbst finde ich auch sehr spannend. Wenn ich die Langeweile aus dem Buch hier überwunden habe, lese ich vielleicht mal ne brauchbare Biographie.
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Vor dem Kitsch ist nichts und niemand sicher.
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Den ganzen Heimweg habe ich überlegt, was vor dem Kitsch sicher sein könnte. Aber selbst zum Bibliser Bahnhof oder ähnlich emotionsarmen Orten wird jemand was finden.
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Eat, crash, love.
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