Jean Rhys: Die weite Sargassosee

Die weite Sargassosee hat einen unmittelbaren Bezug zu Jane Eyre. Wie auch in der letzten Woche könnte dieser Text Spoiler enthalten. Nächste Woche wieder was spoilerfreies. Versprochen.

Über Jahrzehnte konnte die englischstämmige Familie Cosway das bequeme und feudale Leben angesehener Plantagenbesitzer auf Jamaika führen. Doch das Glück hat die Familie verlassen. Das aktuelle Familienoberhaupt Alexander ist als Trinker und Sklavenschinder verschrieen, sein „schwachsinniger“ Sohn Pierre macht den Bediensteten Angst und seine Frau Annette verliert über alldem den Verstand. Nur Tochter Antoinette scheint auf dem Familiensitz Coulibri eine einigermaßen glückliche Kindheit zu verleben. Als die Sklaverei auf Jamaika verboten wird, sind die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft endgültig vorbei. Der Vater lebt da schon nicht mehr, und die Mutter kann als Kreolin von Martinique weder von der weißen noch von der schwarzen Bevölkerung Hilfe erwarten. Eine Ehe mit Mr. Mason, der gerade erst auf die Insel gekommen ist und von all den Dramen nichts weiß, scheint ein vielversprechender Ausweg zu sein. Doch auch er kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten, bringt im Gegenteil noch die wenigen verbleibenden Angestellten gegen sich auf, und als Coulibri in Flammen aufgeht, angezündet von einem wütenden Mob, ist es mit Antoinettes Kindheit endgültig vorbei.

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Sie wird auf eine Klosterschule geschickt, wo sie nicht nur Lesen und Schreiben sondern auch Gottesfurcht lernen soll. Wenn sie auch nicht glücklich ist, so doch zumindest zufrieden, nach dem Chaos der letzten Jahre an einem ruhigen, vorhersehbaren Ort gelandet zu sein. Unerwartet steht eines Tages ihr Stiefvater vor der Tür – er hat im Sohn einer englischen Familie den idealen Heiratskandidaten für Antoinette gefunden, das sagt er ihr da aber noch nicht. Wenige Wochen später geht es schon in die Flitterwochen mit dem zunächst unbenannten Mann, der sie bald schon nicht mehr Antoinette nennt, sondern mit ihrem zweiten Namen anspricht, den sonst keiner verwendet: Bertha. Bertha Mason.

„Ich hasse es jetzt, wie ich dich hasse, und bevor ich sterbe, werde ich dir beweisen, wie sehr ich dich hasse.“

Spätestens da wissen dann auch alle, die jemals Jane Eyre gelesen haben, wohin die Reise geht. Bisher aber kannte man den Weg noch nicht. Genau das ist dann auch die Idee des Romans: aus der „madwoman in the attic“ einen Menschen zu machen, mit einer Geschichte, mit zerstörten Träumen und längst vergrabenen Hoffnungen. Noch während der Flitterwochen gerät die Ehe zum Albtraum für beide Beteiligten. Verzweifelt versucht Antoinette, die Liebe ihres Mannes zu gewinnen, doch der hasst die Insel, auf der sie lebt, die Menschen, die zu ihren Vertrauten gehören und glaubt stattdessen einem Fremden, der berichtet, Antoinettes Mutter sei eine verrückte Säuferin gewesen und ihre Tochter werde mit Sicherheit das gleiche Schicksal erwarten. Er fühlt sich betrogen, in die Ehe gedrängt und ins Unglück gestürzt. Wie lange die beiden zusammen auf der Antillen-Insel leben, wird nicht ganz klar, es können eigentlich nur ein paar Wochen sein, aber in dieser Zeit kommt es zu so vielen Verletzungen, dass ein profunder Hass auf beiden Seiten entsteht, der schnell in Verzweiflung umschlägt.

Wer sich also immer schon gefragt hat, was um alles in der Welt Bertha Mason auf dem Dachboden von Thornfield Hall macht, findet in diesem Text die Antwort. Der in den späten 60ern erschienene Roman gilt als frühes Beispiel für das postkoloniale „writing back“, einer damals noch jungen literarischen Strömung, in der den Kolonialisierten endlich eine Stimme verliehen werden sollte. Die verrückte Kreolin, die in Jane Eyre als beißendes Monster und wildes Biest erscheint, wird hier wieder eine Frau. Und das ist dann auch das größte Verdienst des Romans. Als unabhängiges Werk wäre Die weite Sargassosee wohl nur mäßig interessant, es sei denn, man ist besonders an schrecklichen Flitterwochen und Streitereien im Feriendomizil interessiert. Man braucht die Verbindung zu Jane Eyre, dann wird es ein bedrückendes Porträt einer Verbindung, die beide Beteiligten ins Unglück stürzen wird, eine ganz besonders. Das Karibikbild, das in diesem Roman gezeichnet wird, bleibt ein oberflächliches. Berichtet wird ausschließlich aus der Erfahrungswelt verhältnismäßig wohlhabender InselbewohnerInnen, die größtenteils britischstämmig sind. Bis auf sehr wenige  loyale Ausnahmen werden die schwarzen EinwohnerInnen als feindselig und verschlagen dargestellt, höchstens höflich, wenn sie auf den eigenen Vorteil bedacht sind.

Zu kämpfen hatte ich beim Lesen zudem mit der Übersetzung, weshalb ich etliche Abschnitte dann auch im englischen Original gelesen habe. Das Übersetzen von Dialekten und Akzenten ist extrem schwierig, das ist mir völlig klar, dennoch fand ich die Übertragung des Kreol-Englisch nur sehr mäßig überzeugend. Im Original zeichnet sich dieses Englisch vor allem durch eine eigene Syntax und spezielle Begriffe aus, in der Übersetzung vor allem durch fehlende Endungen bei nich(t) und is(t). Insgesamt wirkte der Roman im deutschen auf mich deutlich schwerfälliger und sperriger als im Original. Wer sprachlich die Möglichkeit hat, sollte bei diesem Roman auf jeden Fall die englische Variante lesen. Unbedingt aber sollte man das Buch im Kontext mit Jane Eyre lesen, ob vorher oder hinterher, denn ohne bleibt Die weite Sargassosee eine recht unrunde Sache.


Jean Rhys: Die weite Sargassosee. Übersetzt von Brigtte Walitzek. Schöffling 2015. 226 Seiten, € 21,95. Lieferbar auch als Taschenbuch bei dtv. Teilweise gelesen in der Ausgabe Norton 1999. Originalausgabe Wide Sargasso Sea. André Deutsch Ltd. 1966.

Das Zitat stammt von S. 174

 

Ein Gedanke zu “Jean Rhys: Die weite Sargassosee

  1. dj7o9 29. Januar 2018 / 11:48

    Den Roman haben wir vor ein paar Jahren im Bookclub gelesen, in Kombination mit Jane Eyre hat uns der Roman sehr gut gefallen, war eine sehr spannende Diskussion. Bin gerne durch deine Rezension wieder dran erinnert worden.
    PS: Ich brauche jetzt wirklich unbedingt dieses Kissen … 😉

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