Joseph Conrad: Lord Jim

In Lord Jim erzählt der Kapitän Charles Marlow einem Kreis interessierter Zuhörer eine Geschichte, die er einst in Ostindien erlebt hat. Dort lernte er zufällig einen jungen Seefahrer namens Jim kennen, den er noch über lange Jahre begleiten würde. Jim war als Offizier an Bord der Patna. Dieses Schiff war auf der Reise von Indien nach Mekka und hatte weit über 800 Menschen an Bord, allesamt Pilger auf der Hadsch und ihre Familien. Aus nicht geklärter Ursache, möglicherweise durch das Wrack eines anderen Schiffes, wurde die Patna beschädigt und aufgrund der maroden Struktur schien der Untergang nur noch eine Frage von Minuten zu sein. Der Kapitän, die Maschinisten und die Offiziere taten das, was in der Seefahrt eigentlich undenkbar ist – sie verließen das Schiff. Jim war strikt dagegen und sah es als seine Pflicht, wenigstens mit den Passagieren zu sterben, wenn er sie schon nicht retten konnte. Doch auf einmal fand er sich an Bord des Rettungsbootes wieder. Zu seiner eigenen Verwunderung musste er im letzten Moment doch gesprungen sein. Obwohl ein Gericht ihn freispricht, wird Jim von seiner Schuld von einem Hafen zum nächsten gejagt und kann mit sich selbst nie ins Reine kommen.

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 Ursprünglich wurde der Roman in Fortsetzungen publiziert und das merkt man ihm an einigen Stellen auch an. Zwar gibt es keine wahnsinnigen Cliffhanger, aber gelgentlich hätte weniger ausschweifendes Erzählen dem Lesefluss nicht geschadet. Obwohl ich die Geschichte an sich spannend fand, lag das Buch manchmal ein paar Tage unbeachtet auf dem Nachttisch, weil es einfach nicht weitergehen wollte mit der Handlung. Marlow trifft in den Jahren, nachdem er Jim kennengelernt hat, immer wieder auf Menschen, die auch von der Patna wissen, die vielleicht sogar Jim kennen, und lässt sie auch zu Wort kommen mit ihrer Variante der Geschichte und ihrem moralischen Urteil über die Besatzung. Dadurch bietet er maximal viele Perspektiven auf den Fall, inklusive einem vernichtenden Urteil durch Jims Vater, einem Landpfarrer, dem er nie wieder unter die Augen treten will, und dessen harsche Kritik daher nur angenommen werden kann.

„Ich will mich nicht entschuldigen – aber ich möchte es gern erklären – ich möchte, dass jemand es versteht – dass wenigstens ein einziger Mensch es versteht! Sie! Warum nicht Sie?“

Nach einer Hetzjagd quer durch die britische Kolonie gelingt es Jim schließlich, ein wenig Ruhe in einem verlorenen Handelsposten in Patusan zu finden. Er regelt dort ein paar Sachen für die einheimische Bevölkerung und verschafft sich so hohes Ansehen. Von der Patna hat dort noch niemand etwas gehört, und so muss er nicht fürchten, weiterhin mit diesem dunklen Fleck in seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden. Er verkörpert dort den gütigen und weisen Kolonialherren, der seine natürliche Überlegenheit zum Vorteil der lokalen Bevölkerung einzusetzen weiß und kluge Urteile in allen Konflikten fällt.

An diesem entlegenen und beinahe vergessenen Ort trifft Marlow zuletzt auf Jim, verabschiedet sich für immer und damit löst sich auch die versammelte Runde auf, die andächtig seinen Ausführungen gelauscht hat. In einer Art ausführlichem Postskriptum wendet Marlow sich später dann noch an einen Zuhörer aus der Runde, der ein reges Interesse an Jim bekundet hat und berichtet ihm, was nach ihrem letzten Treffen geschehen ist. Dies geschieht in Form eines sehr, sehr langen Briefes und ist weit weniger lebhaft und anschaulich erzählt als der vorherige Teil.

Lord Jim ist eine Geschichte über Schuld, Vergeben und Gerechtigkeit, vor allem aber ist es eine Kolonialgeschichte. Kaum eine der Episoden hätte sich in einem anderen Kontext als dem kolonialen abspielen können, vor allem nicht Jims letztendliche Zuflucht und Neuerfindung als Heilsbringer im Dschungel. Conrad hat aber einen durchaus kritischen und zuweilen spöttischen Blick auf die Reisenden und Gestrandeten aus Europa, die neue Erlebnisse oder sogar neues Glück in der Kolonie suchen. Seinen Ruf als Klassiker hat Lord Jim sicher verdient, ein wenig Raffung hätte mich an einigen Stellen aber doch gefreut.


Joseph Conrad: Lord Jim. Übersetzt von Manfred Allié. Fischer Klassik 2016. 492 Seiten, € 14,99. Die Übersetzung folgt der Ausgabe Lord Jim. W.W. Norton & Company 1996. Erstausgabe unter gleichem Titel Blackwood’s Magazin 1900 (als Fortsetzung publiziert).

Das Zitat stammt von S. 105

3 Gedanken zu “Joseph Conrad: Lord Jim

  1. Constanze Matthes 25. Oktober 2017 / 18:46

    Das Buch steht seit geraumer Zeit in meinem Bücherschrank. Und irgendwie schiebe ich die Lektüre immer wieder vor mir her, obwohl ich Bücher über das Meer und mit historischem Hintergrund sehr gern lese. Danke für die Erinnerung mit Deinem Bericht. Viele Grüße

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  2. Manfred Kramesberger 13. Februar 2019 / 18:16

    Zuerst: Jim wird nicht freigesprochen. Er verliert sein Offizierspatent. Dann: Jim tritt zu keiner Zeit als ‚Heilsbringer‘ auf, Er will helfen; er versucht (eher mit einfachen Methoden und viel Geduld), die Menschen von Patusan von der Knechtschaft befreien, und – vor allem – er will seine Schuld wiedergutmachen. Noch eine Frage: Was meinen Sie mit ‚Raffung‘ ? Die Geschichte ist so präzise und großartig geschrieben, dass um jedes einzelne Wort schade wäre. Ich habe den Roman so etwa 22 x gelesen (Hälfte auf Englisch, Hälfte auf Deutsch). Auch beim letzten Lesen des Werks stieß ich noch auf Formulierungen, die mir vorher offensichtlich entgangen waren – und die einfach unglaublich genau eine Situation, eine Handlung, eine Stimmung, manchmal einfach eine Sache beschreiben. Beinahe Conrad’s gesamtes Werk (von wenigen Ausnahmen abgesehen) ist literarisch einfach erstklassig..
    Diesen Text möchte ich aber als Conrad’s Meisterwerk bezeichnen.

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    • Marion 15. Februar 2019 / 23:18

      Ich danke für den ausführlichen Kommentar.
      Leider kann ich mich nicht besonders hilfreich dazu äußern – ich kann nicht mehr begründen, was ich mit Raffung meinte, weil ich mich nicht mehr gut genug daran erinnere. Da ich nun kein Exemplar griffbereit habe, kann ich noch nicht mal versuchen, es zu rekonstruieren. Ich erinnere mich, dass ich den Roman in Teilen als etwas schleppend empfunden habe. Sie empfinden das offenbar sehr anders, was natürlich sehr schön für Sie und den Roman ist.
      Ebenso kann ich Ihre Korrektur der Fakten nur so stehen lassen. In Anbetracht der Tatsache, dass Sie 21 Runden Vorsprung haben, bin ich aber durchaus gewillt, Ihnen zu glauben.

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