Krise mit Umzugskisten -„Hier beginnt der Wald“ von Saskia Hennig von Lange

Ein namenloser LKW-Fahrer fährt eine Wohnungseinrichtung von A nach B. Eigentlich völlig unspektakulär, ein einfacher Auftrag, doch Saskia Hennig von Lange lässt ihn so massiv vom Weg abkommen, dass man bald nicht mehr weiß, was real ist und wo die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt verläuft.

Es ist der erste Job seit langem für den namenlosen LKW-Fahrer. Er hat ihn überstürzt angenommen, nicht verhandelt, keine Fragen gestellt, denn es geht ihm gar nicht um den Job, sondern um die Distanz, die man dabei zurücklegt. Seine Partnerin ist schwanger, er ist überfordert. Das Kind sei „ihre Idee“ gewesen erfährt man auf den ersten Seiten.

Also Rückzug in die Fahrerkabine. Mit einer Wohnungseinrichtung auf der Ladefläche hat er ein klares Ziel und einen klaren Auftrag. Und dann den nächsten und immer so weiter, niemals muss er an- und innehalten. Ein Unfall, nicht schwer, aber immerhin mit Fahrzeugschaden und Platzwunde, zerstört die Hoffnung auf Klarheit und bringt ihn vollends aus der Bahn. Nur notdürftig behandelt versteckt er sich mit gar nicht behandeltem LKW am Rande eines Walds, wo er sich erstmal sortieren will. Doch statt der erhofften Ruhe zwischen Laubgeraschel und Vogelgezwitscher findet er dort nur noch mehr Chaos, vor allem in seinem Kopf.

Die Auseinandersetzung mit der von ihm ungeplanten und unerwarteten Schwangerschaft seiner Partnerin wird zur Konfrontation mit seiner eigenen Kindheit. In Erinnerungsfetzen werden Bilder vom Aufwachsen mit seiner Mutter an die Oberfläche gespült, der Mutter die nach Schnaps und Zigaretten riecht und so liebevoll wie abweisend sein kann. Bald taucht im Wald ein Jäger auf, begleitet von seinem Hund. Kurz darauf ein Junge, der aus der naheliegenden Wohnsiedlung stammen muss. Er ist das Jagdwild, erkennt der Fahrer erschrocken, der Junge ist in großer Gefahr.

„Dieser Junge, der da im Gras lag, das war doch ich. Da war niemand anders. Und wer hätte das auch gewesen sein sollen, ein kleiner Junge, an der er sich erinnern kann?“

– S. 53

Spätestens an diesem Punkt verschwinden die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Realem und Imaginiertem. Tatsächlich gibt es keinen äußeren Anhaltspunkt dafür, dass der Jäger es auf den Jungen abgesehen hat und noch nicht einmal dafür, dass es die beiden tatsächlich gibt. Für den Fahrer aber geht es ganz real um Leben und Tod, zumindest das des Jungen, für das er seins aber auch opfern würde. Der Speditionsauftrag ist längst ins Reich der Träume verbannt, er selbst wird zum Wesen des Walds, zum Untier fast.

Saskia Hennig von Lange gelingt in diesem kurzen Roman eine beeindruckende Schilderung eines aus der Bahn geworfenen Innenlebens, einer Krise die ein scheinbar unauffälliges Leben ins Manische kippen lässt. Mitunter ist es schwer, dem Protagonisten zu folgen, zu erraten, ob „sie“ die Mutter oder die verlassene Partnerin ist, beide Beziehungen aber münden in der gleichen Krise. Der Junge scheint ihm sogleich Reflektor der eigenen Kindheit zu sein und das eigene Kind, das es trotz allem zu schützen gilt. Hier beginnt der Wald ist in ihrer Kürze eine lohnende, fordernde und extrem verdichtete Lektüre, aus deren Dickicht man sich nur mühsam wieder lösen kann.


Saskia Hennig von Lange: Hier beginnt der Wald.
Jung und Jung 2018, 149 Seiten.

978-3-99027-216-9


2 Antworten zu „Krise mit Umzugskisten -„Hier beginnt der Wald“ von Saskia Hennig von Lange”.

  1. Avatar von carolagueldner
    carolagueldner

    Dankeschön wieder einmal

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