Höllisches Idyll – „Die Infantin trägt den Scheitel links“ von Helena Adler

Grüne Wiesen, schneebedeckte Gipfel, der Duft von Heu und in der Ferne das Läuten von Glocken – so idyllisch ist es auf dem Bergbauernhof. Natürlich nicht. Helena Adler erzählt in Die Infantin trägt den Scheitel links mit Brutalität und Freude am Grotesken von einem Aufwachsen in der österreichischen Provinz.

Die Infantin wächst auf einem Hof auf mit einem Vater, der sich der Esoterik und einer Mutter, die sich dem religiösen Wahn verschrieben hat. Zwei Zwillingsschwestern hat sie, deren Lebenssinn darin zu bestehen scheint, das ihrige zur Hölle zu machen. Überschrieben sind die einzelnen Kapitel mit Bildzitaten, die teils so harmlos klingen, dass man erst gar nicht darauf kommt. Das erste Kapitel ist überschrieben mit „Home Sweet Home“, bezieht sich aber nicht auf den vielgedruckten Sinnspruch aus dem Baumarkt, sondern auf ein Werk von Arman, das aus Gasmasken hinter Glas besteht.

Gleich im ersten Satz fordert die Erzählerin auf, ihr in die Untiefen der Malerei zu folgen: „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.“ Das möchte man vielleicht gar nicht, aber es bleibt einem auch nicht erspart. Die Erzählerin animiert für einen ein Wimmelbild mit toten Tieren, Blut und Schlamm, Zorn und Gewalt und spinnt daraus die Geschichte einer Kindheit und Jugend. Die wäre auch ohne Bruegel schon grausam genug. Die Infantin hadert mit ihrem familiären Dasein, das von Generationen entbehrungsreicher Arbeit, katholischer Devotion und Sturköpfigkeit geprägt ist. Der Hof, auf dem sie leben, gehört den Großeltern und die sträuben sich so eisern gegen jede Form der Erneuerung, dass nur ein Vollbrand helfen kann. Im Dorf fällt man schon negativ auf, wenn man nicht mit biederer ÖVP-Einheitsfrisur herumläuft. Ein Scheitel links? Die Infantin traut sich was!

„Ich stehe ein für das Fußvolk, ich erhebe meine Stimme für alle Geknechteten dieses Landes, für das niedrige Volk mit den obdachlosen Herzen!“

– S. 104

Helena Adler lässt in diesem Roman die Grenzen zwischen Wahrheit und höllischer Imagination verschwinden. Legt die Erzählerin ihren teuflischen Schwestern wirklich einen abgetrennten Kuhkopf ins Bett oder träumt sie nur davon, ebenso wie sie davon träumt, dass Mitch Buchannon den Strand von Malibu verlässt, um sie auf seinen starken Armen davonzutragen, in ein schöneres, reicheres Leben? Die Jugend der Infantin changiert irgendwo zwischen Rachephantasie, zweifelhaftem Umgang und verliebter Teenie-Träumerei – in Teilen also ganz durchschnittlich, dann wieder blutiger Alptraum.

Davon erzählt Adler mit einer bildreichen, kompromisslosen und brutalen Sprache, die ihresgleichen sucht. Der nach ihrem Tod geschaffene Preis „für rebellische Literatur“ heißt nicht umsonst so. Eine stringente Erzählung darf man von diesem Roman nicht erwarten und Ungewissheiten muss man verkraften können. Erst ganz zum Ende wird es ein bisschen geordneter, man findet wieder Boden unter den Füßen und kann hoffen zu greifen, was wirklich passiert und passiert ist. Bis dahin ist es ein ganz fantastischer und wilder Höllenritt, bei dem man vergisst, wo oben und wo unten ist.


Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links.
btb 2022, 183 Seiten.

978-3-442-77129-5


3 Antworten zu „Höllisches Idyll – „Die Infantin trägt den Scheitel links“ von Helena Adler”.

  1. Avatar von dj7o9

    oh krass, das hab ich auch hier liegen und pushe es jetzt mal ein bißchen höher, klingt sehr wild und faszinierend was du so schreibst. Ganz liebe Grüße, Sabine 🙂

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    1. Avatar von schiefgelesen

      Deinen Kommentar sehe ich erst jetzt, sorry für die späte Antwort. Es ist wirklich wild und ein ganz großartiges Buch. Aber auch bei mir lag es richtig lange viel zu weit unten auf dem Stapel. Ich bin gespannt, was du dazu sagen wirst!

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  2. Avatar von Aufreibendes Dasein – „Fretten“ von Helena Adler – schiefgelesen

    […] Adlers dritte literarische Veröffentlichung, zwei Jahre nach dem durchschlagenden Erfolg von Die Infantin trägt den Scheitel links. Mit diesem Werk hat es auch etliche Gemeinsamkeiten, sowohl thematisch als auch im Aufbau. Wie […]

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