Unfähig, gesellschaftliche Normen zu erfüllen, findet Keiko einen unwahrscheinlichen Ruhepol in ihrem Leben: Im Konbini, der japanischen Variante des Convenience Store, versteht sie das erste Mal, wie alles funktioniert. Zwischen dem Getränkekühlschrank und der Snack-Theke ist ihr Platz in der Welt.

Keiko hat keine Ahnung, wie man sich benimmt. Also wirklich gar nicht. Sie weiß nicht, wie man sich mit anderen unterhält, welche Reaktionen und Emotionen von ihr erwartet werden und wie sie die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen soll, die ihr auch einfach nicht ganz klar sind.
Mit Mitte 30 arbeitet sie immer noch in dem Konbini, in dem sie vor vielen Jahren als Aushilfe angefangen hat. Sie ist nur als Teilzeitkraft angestellt, doch dem Laden gilt ihr ganzes Leben. Sie schläft, damit sie ausgeruht bei der Arbeit erscheinen kann. Sie isst, damit sie gesund bleibt und ihre Arbeit gut und zuverlässig machen kann. Alles, was sie isst und trinkt, kauft sie in ihrem Laden. Jede ihrer Zellen, so stellt sie sich gerne vor, ist aus dem Convenience Store und seinen Produkten gemacht.
Denn hier hat sie eine ideale Welt gefunden. Alle tragen die gleiche Uniform, alle müssen dem gleichen Mitarbeiter-Handbuch folgen. Darin ist geregelt, wie Angestellte ihre Haare tragen müssen, wie die Regale sortiert werden müssen und sogar jede Zeile Kunden-Dialog ist vorgeschrieben, von der Begrüßung über die Anpreisung von Sonderangeboten bis zum Abschied. Keiko muss sich nicht fragen, was sie sagen soll, wie ihr Verhalten ankommt und was sie tun soll – es steht in den Anweisungen und solange sie diesen folgt, ist ihr Verhalten tadellos und wird nicht hinterfragt.
Kompliziert wird es erst, wenn sie die summende Welt des Konbini verlässt. Ihre wenigen Freundinnen finden es merkwürdig, dass sie noch nicht verheiratet ist, noch nicht einmal eine Beziehung hatte und noch immer in einem Aushilfsjob arbeitet. Wie sie auf die Nachfragen reagieren soll, lässt sie sich von ihrer Schwester diktieren, denn Keiko selbst weiß nicht, was man auf so etwas sagen soll. Nichts in ihr strebt danach, eine andere Stelle zu finden, zu heiraten oder gar ein Kind zu bekommen. Diese Kategorien von „Erfolg“ haben für sie keine Bedeutung. Den Druck spürt sie trotzdem und die ständigen Fragen und Erwartungen zerstören ihre Freude an sozialen Treffen. Dann lieber wieder zurück in den Konbini, wo jede Unterhaltung mit „Irasshaimase“ beginnt und mit „Vielen Dank für Ihren Einkauf!“ endet und zwischendrin wenig Fallstricke lauern.
Sayaka Murata schildert die Geschichte einer Außenseiterin, die sich ihres Status durchaus bewusst ist, aber nichts daran ändern kann oder will. Keiko ist zwischenzeitlich sogar bereit, ihre Wohnung und ihr Leben mit einem Mann zu teilen, der sie gar nicht interessiert, nur damit sie endlich präsentabel ist, damit sie ein Teil der Gesellschaft werden kann. Der kurze und kurzweilige Roman besticht durch seinen Humor und die Einzigartigkeit der Protagonistin, deren Geschichte nur vor dem Hintergrund der japanischen Gesellschaft funktioniert. Atemlos hetzt Keiko Irasshaimase-rufend durch eine Welt, die sie permanent überfordert und der sie nur entrinnen kann, wenn die Glastür des Konbini sich hinter ihr schließt. Mit ihrer charmanten Protagonistin stellt Murata ein weiteres Mal die Frage, wie sehr wir uns von der Gesellschaft beeinflussen lassen sollten, wieviel Anerkennung man bereit ist aufzugeben für das eigene Verständnis von Erfüllung und Glück.
Am gleichen Tag, an dem ich diesen Roman beendet habe, habe ich in der Zeitung ein Interview gelesen mit einer Frau, die Kassiererin war in der Karstadt-Lebensmittelabteilung. Nach 28 Jahren muss sie diesen Hort bundesrepublikanischer Einkaufsgeschichte verlassen, da die Abteilung geschlossen wird. Sie ist 50, sie findet keinen neuen Job und sie ist verzweifelt. Ihr ganzes Berufsleben lang war sie Kassiererin im Lebensmittelhandel und das will sie für immer sein. Ich fand das sehr bemerkenswert, wie sie hing an diesem Job, den wahrscheinlich viele Menschen nicht besonders attraktiv finden und den sie ausgeübt hat im Untergeschoss eines riesigen Warenhauses, was ja objektiv nicht besonders attraktiv ist. Aber sie war gut darin. Sie war wirklich die beste, netteste und lustigste Kassiererin, die ich jemals erlebt habe. Es war der perfekte Ort für sie.
Keiko und ihre handfest-hanseatische Kollegin aus der Feinkostabteilung haben ihre Nischen in dieser Welt gefunden, was ja auch nicht wenig ist, und darin eine Zufriedenheit, die man ihnen wirklich gönnen möchte.
Vielen Dank für Ihren Einkauf!


