Eine eingeschworene Gemeinschaft lebt auf der kleinen grünen Insel in Norwegen, auf der Vesaas Roman Der Keim spielt. Fremde verirren sich nur höchst selten hierher. Andreas Vest folgt einem unbestimmten Ruf, als er dorthin reist und wird das Leben der Gemeinschaft innerhalb kürzester Zeit verändern.

Grün und friedlich liegt die Insel irgendwo vor der norwegischen Küste, als Andreas Vest sie das erste Mal betritt. Es ist ein Sommertag, auf den Feldern wird gearbeitet, natürlich auch auf dem Hof der Familie Li. Es ist der größte Hof der Insel, von beinahe überall ist das Dach der riesigen Scheune über den Hügeln erkennbar, dahinter ein versteckt liegender, reich tragender Obstgarten. Karl Li hat all das bauen lassen, als er den Hof von seinem Vater übernahm und große Pläne hatte. An diesem Tag gibt es schon am frühen Morgen einigen Tumult auf dem Hof, im Schweinestall bricht eine Unruhe aus, die mit dem Tod zweier Sauen endet.

Als sei das ein böses Ohmen, betritt fast zeitgleich ein Fremder die Insel. Er reist ohne bestimmtes Ziel auf der Suche nach Ruhe und nach Grün, nach dem er sich sehnt, seit er schwer traumatisiert einen Unfall in einer Fabrik überlebt hat. Er sucht nichts weniger als Heilung und hofft, sie hier in der Abgeschiedenheit zu finden. Es wird ihm nicht gelingen. Nur wenige Stunden später ist ein Mädchen tot und er wird von einer Meute gejagt, die nur durch sein Blut beruhigt werden kann.

Tarjei Vesaas schildert eindrucksvoll eine Dynamik, die sich rasend schnell entwickelt. Binnen kürzester Zeit kocht eine Stimmung hoch, deren Energie nicht mehr zu bremsen ist. Diejenigen, die den Ruf nach Vergeltung gehört haben, sind für jede Stimme der Vernunft und der Gnade taub. Wie wildgewordene Hunde ein Kaninchen jagen sie den Verdächtigen über die Insel, von der es kein Entkommen gibt. Es sind nur wenige, die sich nicht mitreißen lassen. Eine Frau, die den Wahnsinn in den Augen des Verfolgten sieht und mahnt, er sei wohl nicht bei Sinnen, sich seiner Taten womöglich gar nicht bewusst. Eine andere, die vom Verfolgten angefleht wird, ihn zu verstecken und die Angst und die Menschlichkeit in seinen Augen sieht.

Wie sich auf einmal so ein Abgrund aus Bosheit und Gewalt öffnen kann. Aber man muss es sehen, so, wie es ist.

S. 138

Woran die wilde Meute nicht denkt, ist das „was dann“. Was macht man denn mit einem Verfolgten, wenn man ihn endlich in die Enge getrieben hat, wenn man seiner habhaft geworden ist? Kann man sich dann noch zügeln?

Als Vesaas den Roman 1940 das erste Mal veröffentlichte, tobte in Europa ein Krieg, wie man ihn vorher nie erlebt hatte und faschistische Bewegungen waren nicht nur in Deutschland etabliert. Der Keim stellt die Frage, was in einem selbst steckt, zu welchen Grausamkeiten Menschen in der Lage sind, ohne dass das nahe Umfeld es für möglich hält, ohne dass die Menschen es selbst für möglich halten. In den Menschen in diesem Roman schlummert der Keim einer immensen Brutalität, der nur einen Tropfen Blut braucht, um bereitwillig auszutreiben und in Minutenschnelle zu voller Blüte zu gelangen.

Vesaas schreibt davon in einer knappen, aber bildreichen Sprache, die in ihrer Ruhe oft im Gegensatz zur Handlung steht. Diese Spannung ist nicht immer leicht zu ertragen, auch von den Figuren der Geschichte nicht. Das Personal des Romans ist knapp und gut komponiert. Im Zentrum der Handlung und der Insel steht die Familie Li, ergänzt von der mysteriösen Kari Nes, die einer Norne gleich über die Insel wandert und den Menschen ihr Schicksal zuzuweisen scheint und von Haug und Dal, zwei grobschlächtigen Arbeitern, die auf leicht skurrile und beinahe komische Art zur Handlung beitragen. Auf nur wenigen Seite wird die idyllische Insel zu einem finsteren Ort, aus einer Gemeinschaft, die immer wusste, was morgen kommen wird, eine verunsicherte, misstrauische Gruppe. Vesaas Roman hat in den Jahrzehnten seit seines Erscheinens nichts an Aktualität verloren und ist noch immer ein beeindruckendes Stück Literatur.

Tarjei Vesaas: Der Keim.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
dtv 2024, 231 Seiten.

978-3-423-14911-2

Die Originalausgabe erschien 1940 unter dem Titel Kimen.


2 Antworten zu „Was in einem steckt – „Der Keim“ von Tarjei Vesaas”.

  1. Avatar von Constanze Matthes

    Ein großes Geschenk, dass dieser Autor vor wenigen Jahren wiederentdeckt und auch nach und nach übersetzt wurde. Ich freue mich auf den nächsten Roman, der im Frühjahr bei Guggolz erscheint. Viele Grüße

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    1. Avatar von schiefgelesen

      Ich habe ihn ja mit diesem Roman sogar erst entdeckt, glaube aber nicht, dass es das letzte war, was ich von ihm lesen werde. Wie ich auch im Text geschrieben habe, fand ich es manchmal ein bisschen schwer, mich an diesen sehr ruhigen Stil zu gewöhnen, aber das ist schon sehr gelungen.

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