Klassenerster – „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron

Der Vater von Christian Baron ist ein gewalttätiger Alkoholiker, der seine Frau schlägt und das Geld der Familie versäuft. Am Elend der Familie trägt er die Schuld. So zumindest scheint es auf den ersten Blick. Baron hat die Umgebung seiner Kindheit schon lange verlassen, räumlich zumindest, und wirft einen Blick zurück, auf die Gesellschaft, die ihn, seine Geschwister und seinen Vater geprägt hat.

Kaiserslautern, überregional wahrscheinlich vor allem für Fußball berühmt, wurde 2016 als Schauplatz der Armuts-Dokumentation „Asternweg – Eine Straße ohne Ausweg“ bekannt. Über mehrere Jahre begleitete ein Kamerateam im Auftrag von VOX die Bewohner*innen des als „Kalkofen“ bekannten Viertels. Wobei „begleiten“ natürlich ein ganz schöner Begriff ist für „draufhalten wenn es Drama gibt und irgendwo mehr Schimmel als Fliesenspiegel an der Wand ist“. Im Kalkofen lebten die Menschen in Schlichtwohnungen, die man nach mitteleuropäischem Standard als unbewohnbar deklarieren würde und wer wollte, konnte das ganze Elend vom Sofa aus betrachten. Wer danach noch nicht genug hatte, konnte sich vergleichbares Elend in den Mannheimer Benz-Baracken, in Rostock Groß Klein oder in der Duisburger Eisenbahnsiedlung angucken. Die Armut der anderen ist recht unterhaltsam, erst recht, wenn sie als „Sozialdokumentation“ aufbereitet wird, dann lernt man noch was dabei.

Bis in den Kalkofen ist die Familie von Christian Baron nicht abgerutscht, das immerhin war seinem Vater wichtig. In Kaiserlautern aber ist er aufgewachsen, in einem Wohnblock, der auch nicht gerade zu den besten Adressen der Stadt gehörte. Sein Vater verdient das Geld für die Familie als Umzugshelfer, bringt hin und wieder Geschenke mit, die „beim Umzug verloren gegangen“ sind, und lässt den Großteil seines Lohns in seiner Stammkneipe Schnorres zurück. Seine Zündschnur ist kurz und wird mit jedem Bier kürzer. Die kleinsten Anlässe reichen ihm als Grund, um komplett zu eskalieren. Leidtragende seiner Wutausbrüche ist vor allem seine Frau. Er verprügelt sie mit äußerster Brutalität, auch während ihrer Schwangerschaften. Aber auch seine Kinder, zumindest seine beiden Söhne, sind vor seinem Zorn nicht sicher.

„Im Gegensatz zu meiner Mutter ertrug mein Vater das Stigma der Armut mit einem Trotz, den man beinahe mit Selbstachtung hätte verwechseln können.“

S. 108

Die Kinder geben vor allem ihm die Schuld am prekären Leben der Familie. Nie reicht das Geld, immer bleibt jemand hungrig. Oft ist kein Geld da für Strom oder Heizung, für Klassenfahrten, neue Klamotten und ähnlichen Luxus schon gar nicht. Die Familie lebt am Rande der Gesellschaft, stigmatisiert durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, ohne Aussicht auf Veränderung. Dem Autor gelingt der Aufstieg dennoch, entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Er macht Abitur, studiert, wird ein richtiger Akademiker – zumindest nach Außen. Er selbst fremdelt immer noch mit dieser Welt, ist immer bedacht, nicht durch eine falsche Äußerung zu offenbaren, dass er gar nicht dort hin gehört, dass er eigentlich ein „Barackler“ ist und auf dem feinen Parkett eigentlich gar nicht stehen dürfte. Zugleich muss er seine Familie permanent beweisen, dass er noch zu ihnen gehört, dass er nicht abgehoben und arrogant geworden ist.

Dass sein Vater nicht die alleinige Schuld am Elend der Familie trägt, erkennt er erst als Erwachsener. Seinen Vater erkennt er als einen „Mann seiner Klasse“, selbst der Sohn eines Vaters, der vor Brutalität nicht zurück schreckt, Teil eines Arbeitsumfelds, in dem das Bier am Morgen zum guten Ton gehört wie anderswo der Kaffee. Sich von dort aus nach oben zu hangeln, ist ein mühsames Unterfangen, das noch mühsamer gemacht wird durch die, die glauben, man bringe es ohnehin zu nichts. Diese Haltung erfahren der Erzähler und seine Familie an allen Stellen, von Mitschülern, Lehrkräften und nicht zuletzt dem Jugendamt. Die Versuchung, dem nachzugeben und einfach da zu bleiben, wo man ist, ist enorm. Ein Wechsel in ein anderes Milieu ist schlicht nicht vorgesehen.

Und eigentlich auch kein Wechsel des Blickwinkels. Man ist gewohnt, dass andere über Armut berichten, die Kamera drauf halten oder betroffen erzählen, wie manche Familien leben, oft voller Mitleid oder Sensationslust. Über die eigene Armut zu berichten, ist mit einem enormen Stigma behaftet. Umso wichtiger, dass es passiert. Ein Mann seiner Klasse ist nicht nur ein sehr persönlicher Bericht, sondern auch eine reflektierte Sozialdokumentation mit Innenperspektive – ohne provokante Fragen, manipulative Schnitte und Werbeblöcke.

Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse.
Ullstein 2021, 280 Seiten.
978-3-548-06467-3


3 Antworten zu „Klassenerster – „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron”.

  1. Avatar von Bri

    Ich fand das Buch auch sehr gut und wichtig. Musste eben wieder an JDVance und seinen Werdegang mit dieser äußerst merkwürdigen Wendung denken. LG, Bri

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    1. Avatar von schiefgelesen

      Ja, das ist eine in der Tat bemerkenswerte Biographie.
      Zwischendrin musste ich manchmal kurz an Szilárd Borbély denken, aber so hart kommt es hier ja zum Glück nicht.

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  2. Avatar von rotherbaron

    Danke für diese „einladende“ Rezension. Das klingt sehr interessant.

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