Alpträume aus der Nähmaschine – „Das Alphabet der Puppen“ von Camilla Grudova

Nähmaschinen ziehen sich als roter Faden durch die phantastische Geschichtensammlung Das Alphabet der Puppen, der Debüt-Veröffentlichung der kanadischen Autorin Camilla Grudova. Sie erscheinen als weibliche Domäne, nahezu durchgehend sind es Frauen und Mädchen, die an den Maschinen sitzen, die Rücken dauerhaft gekrümmt vom genauen Hinsehen in schlechtem Licht, von der eintönigen Arbeit. Gleich in der ersten Geschichte entdeckt Greta, dass sie sich auftrennen kann und dass unter ihrer Haut eine Form erscheint, die „die ideale Grundform für eine Nähmaschine“ ist.

Ganz so abgedreht geht es nicht weiter, zumindest wird niemand mehr beinahe zu einer Nähmaschine. Aber der Sphäre des Phantastischen bleibt Grudova treu. Viele ihrer Erzählungen greifen Märchenmotive auf, die an die Grimms erinnern oder an Andersen. Aber auch ihre modernen Adaptionen klingen durch. Manchmal erinnert der Ton sehr an die Märchenfassungen Angela Carters. Das ist es dann aber schon an Ähnlichkeiten. Grudova findet einen sehr eigenen Ton und eine sehr eigene Welt, in der sie ihre Figuren agieren lässt. Es scheint nicht immer dieselbe zu sein, aber die Dystopie ist ihnen gemein. Man weiß nicht, ob ihre Geschichten kurz vor der Apokalypse spielen oder Jahre danach, oder einfach in einer Realität die immer schon grauenhaft war.

„Ich war auf der Suche, es erschien mir unmöglich, dass diese Stadt der Fabriken, der Fachgeschäfte, diese Stadt, die alles in große Mengen herstellen konnte, nur einen wie mich produzierte.“

Grudovas Charaktere leben in freudlosen Welten, in tristen Häusern und unter totalitären Regimes. Sie arbeiten in schrecklichen Fabriken, feilschen um rationierte Nahrungsmittel und bekommen nur Babys, wenn der Staat es erlaubt. Und der Staat erlaubt es nur den Reichen. Grudova erläutert die Lebenswelten ihrer Figuren nicht, es gibt keinen Rahmen, in den man sie einordnen könnte, das Absurde ist alltäglich. In der Kürze ihrer Erzählungen gelingt es Grudova, ganze Welten entstehen zu lassen und eine Atmosphäre zu erzeugen, die das alles mühelos trägt. Grudova lässt ihre Hauptfiguren durch die Hinterzimmer eines Kostümverleihs schleichen, ihre eigenen Kinder fressen und das traurige Leben einer Spinne fristen. So schaurig das alles ist, werden die Geschichten nicht gruselig und lassen sich auch kaum als Horror lesen. Dafür stehen die existenziellen Kämpfe der Charaktere viel zu sehr im Vordergrund. Dafür sind die Geschichten verstörend im besten Sinne und wirklich großartig aufgebaute kleine Wunderkammern, deren Besuch sich lohnt.


Grudova, Camilla: Das Alphabet der Puppen. Aus dem Englisch von Zoë Beck. CulturBooks 2020, 200 Seiten. Originalausgabe unter dem Titel The Doll’s Alphabet 2017 bei Coffee House.

Das Zitat stammt von S. 183.

4 Gedanken zu “Alpträume aus der Nähmaschine – „Das Alphabet der Puppen“ von Camilla Grudova

  1. LeseNele 4. Januar 2022 / 17:51

    Wow – ein tolles und wunderbar bedachtes Buchcover. ❤

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    • schiefgelesen 4. Januar 2022 / 18:57

      Ja, das finde ich auch. Das ist von einem italienischen Künstler, der alte Postkarten und Fotos bestickt.

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      • LeseNele 4. Januar 2022 / 23:36

        Vielen Dank, dann kann ich später etwas Recherche betreiben. 😊

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