Gisela Kron hat einen festen Plan für ihr Leben: Sie will arbeiten, es zu etwas bringen, sich bilden und reisen. Vorerst macht sie das alles unter dem Namen Gilgi, der passt viel besser zu ihr. Später, wenn sie gesetzter ist, will sie Gisela heißen. Sie arbeitet als „Maschinenmädchen“ in einem Unternehmen und tippt den ganzen Tag Briefe über Strumpfwaren und Trikotagen en gros. Abends lernt sie in der Berlitz School Fremdsprachen, denn wer vorwärts kommen will, darf sich nicht ausruhen. Das hat Gilgi mit ihren 20 Jahren schon gut verstanden. An ihrem 21. Geburtstag jedoch erfährt sie vom grundsoliden Ehepaar Kron, dass sie nicht ihre Tochter ist, sondern adoptiert wurde. Gilgi zweifelt an der Beziehung zu ihren Eltern, erst recht, als sie herausfindet, dass auch Frau Täschner, eine bitterarme Schneiderin, die sie zur Adoption freigegeben hat, nicht ihre biologische Mutter ist.
Halt findet sie bei Martin, einem in den Tag lebenden Bohemien, der plötzlich ihre ganze Welt auf den Kopf stellt. Bisher hat Gilgi sich immer geweigert, dieses ganze Verliebtsein so ernst zu nehmen. Anderes war ihr wichtiger, ihre Freiheit, ihr eigenes Auskommen, Freundschaften. Nun wünscht Martin sich, dass sie weniger Zeit bei der Arbeit und mehr mit ihm verbringt und so nach und nach fällt es Gilgi immer leichter, morgens einfach liegen zu bleiben. Man kommt auch so ganz gut über die Runden. Doch ein kleiner Zweifel bleibt und nagt hartnäckig an Gilgi. Was ist nur aus ihren Idealen geworden? Will man die für einen dahergelaufenen Schriftsteller über Bord werfen?
Ob sie das wirklich will oder ob sie sich am Ende doch treu bleibt, darüber schreibt Irmgard Keun in Gilgi, eine von uns. Es war ihr Debüt-Roman, der 1931 so perfekt zum Zeitgeist passte und Keun über Nacht bekannt machte. Gilgi ist eine liebenswerte und charmante Vertreterin der „Neuen Frau“, die in den 1920ern immer populärer wurde. Frauen fanden, vor allem ans Angestellte, in dieser Zeit neue Möglichkeiten der finanziellen wie gesellschaftlichen Unabhängigkeit. Ehe und Kinder waren nicht mehr das höchste Ziel. Gesellschaftlich akzeptiert war die Bewegung nicht immer, vor allem, wo es um sexuelle Selbstbestimmung ging. Gilgi bekommt das im direkten familiären Umfeld zu spüren. Als ihre Adoptiveltern von der Beziehung mit Martin erfahren, stellen sie ihr ein Ultimatum. Gilgi zieht aus.
„Viel wichtiger als alles Verliebtsein: wir Jungen müßten zusammenhalten. Wir dürften so vieles nicht einander geschehen lassen, wir müßten alle, alle einander sehr wirkliche Freunde sein.“
Mit selbstbewusstem Charme, ihrer ganz eigenen Philosophie und mit der Unterstützung ihrer Freundin Olga, ihrem „Marzipanmädchen“ will sie sich fortan durchschlagen. Das ist gar nicht so leicht, denn Deutschland befindet ich mitten in einer Wirtschaftskrise, deren Folgen auch Gilgis Umfeld zu spüren bekommt. In Gilgis Firma gibt es die ersten Kündigungen und ein alter Freund von ihr steht plötzlich als Hausierer vor der Tür. Von seiner unbeschwerten, fröhlichen Art ist nichts mehr geblieben in seinr Sorge, wie man zwei Kinder ernähren soll. Man müsste viel mehr füreinander da sein, denkt Gilgi, weniger auf das eigene kleine Glück bedacht sein. Und dann liegt sie doch wieder in Martins Armen und vergisst die ganze Welt.
Schon in diesem ersten Roman erkennt man, welch schriftstellerisches Talent in Keun steckt. Mit viel Humor, geradlinig und mit Blick auf die Details erzählt sie von Gilgis Weg. Manche Szenen werden fast filmisch ausgeschmückt, schlaglichtartig beleuchtet, anderes wiederum wird ganz sachte und zurückhaltend erzählt. Ohne rührselig zu werden, erzählt Keun von dem jungen Mädchen, das sich selbst nicht mehr versteht und mit den vielen Anforderungen zu kämpfen hat, die die Welt an sie stellt, vor allem aber auch sie selbst. Im traditionellen Wertebild ihrer Adoptiveltern findet Gilgi sich ebenso wenig wieder wie in der steifen Eleganz, in der ihre leibliche Mutter lebt. Trotz dieser nicht ganz leichten Ausgangslage scheint Gilgi Freude daran zu haben, sich einen eigenen Weg zu bahnen. Ob sie das kann, fragt sie gar nicht groß. Was bleibt ihr denn auch sonst? Auch als Leserin hat man keine Seite lang Zweifel daran, dass diese kluge, patente, agile Person ihren Weg im Leben gehen wird. Es ist eine Freude, ihr dabei zuzusehen.
tl;dr: Keun schreibt über Gilgi, eine junge Frau, die in den späten 1920ern ihren Weg finden will in einer Welt, die im Umbruch ist und der man das, was Gilgi will, abringen muss. Charmant und witzig, leichtfüßig und mit Tiefgang.
Irmgard Keun: Gilgi, eine von uns. Ullstein 2018, 272 Seiten. Zuerst erschien der Roman 1931 bei der Deutsche Verlags-Aktiengesellschaft Universitas Berlin.
Das Zitat stammt von S. 194.