In Thalbach, einer recht verschlafenen Stadt in der Nähe von Freiburg, bahnt sich eines Sommertages ein Unglück an. Mitten im Zentrum steht eine junge Frau auf dem Dach eines Hauses. Die will springen, ist sich eine Anwohnerin sicher und verständigt die Polizei, die mit Aushilfs-Psychologe Felix und Verstärkung durch die Feuerwehr anrückt, um das Schlimmste zu verhindern. Schnell ist der Platz vor dem Haus dicht besiedelt von Schaulustigen, die Eis essen, Cola trinken, sich sonnen und neugierig abwarten, was wohl noch passieren wird.
Auch wenn sie nicht unbedingt zu den Gaffern gehören, sind doch etliche Menschen auf die eine oder andere Art von dem Ereignis betroffen. Felix, der nach nur einem Psychologie-Lehrgang die mögliche Suizidantin retten soll, Maren, die ihr Haus nicht betreten kann, weil eine Frau auf ihrem Dach steht, Winnie, die endlich eine Chance findet, in der Schule nicht mehr gemobbt zu werden. Sie und etliche andere werden von der Frau auf dem Dach berührt, werden an ihre Vergangenheit erinnert oder finden endlich den Mut, Dinge zu ändern. Während vor dem Haus alle gespannt abwarten, ob die junge Frau nun den einen entscheidenden Schritt in die Tiefe macht, sind am Boden einige schon viel weiter und stürzen sich – symbolisch – kopfüber ins Ungewisse.
„Als abgründigen Setzkasten sah er Thalbach vor sich, ein Sammelsurium an Wut und angestauten Ressentiments, lauter hilflose Erwachsene, in deren Gerippe sich das verletzte Kind verwachsen hatte, das sie einmal gewesen waren und das sich Bahn brach, wann immer Müdigkeit oder Überforderung es möglich machte.“
Am Anfang liest sich das Buch fast wie eine Sammlung von Kurzgeschichten. Erst einmal leben die Charaktere nebeneinander her, aber dann wird nach und nach klar, wie sie zusammenpassen, an welchen Stellen ihre Geschichten ineinander greifen. Nicht an allen Stellen überzeugt das gleichermaßen. Die mit Komplexen behaftete Schneiderin Maren beispielsweise ist sehr stimmig charakterisiert, vom ersten verzweifelten Versuch, ihre Beziehung zu retten, bis zur spontanen Flucht nach Paris mit einem Mann, der ihr scheinbar die ersehnte Aufmerksamkeit schenkt. Aber wie der weltberühmte Modeschöpfer Ernesto aus Mailand einen Hut in den Nachrichten entdeckt und nach Thalbach eilt, um ihn auf dem Kopf eines Obdachlosen zu entdecken, das ist märchenhafter als der Roman es sonst hergibt.
Das schadet dem Buch aber nicht wesentlich. Der Aufbau ist durchdacht und gelungen und es ist interessant, zu verfolgen, wie nach und nach die Geschichten ineinander greifen und langsam klar wird, das die meisten handelnden Personen auf die eine oder andere Art miteinander verbunden sind. Der Sprung spielt an nur drei Tagen, vom Tag vor dem Sprung bis zu dem danach, birgt aber aufgrund zahlreicher Rückblenden, Erinnerungen und biographischer Elemente deutlich mehr Handlung. Das Personal rekrutiert sich sämtlich aus dem bürgerlichen Kleinstadt-Milieu, dessen eine Ausbrecherin, die Frau, die sich dem normierten Leben bisher erfolgreich verweigerte, nun auf einem Dach steht und Ziegel hinunter wirft. Dieses Milieu charakterisiert Lappert treffend und sensibel.
Die Springerin auf dem Dach sieht unter sich ein Sprungtuch. Sie weiß, dass ein Sprung sie nicht töten würde, aber was dann kommen wird, ist dennoch unklar. Man wird sie mitnehmen, sie weiß nur nicht, wohin. Die Angst vor dem Sprung, das ist allen Personen in diesem Roman gemein, ist kleiner als die vor der Landung. Am Ende geht es für die meisten gut aus. Bleibt zu hoffen, dass es auch der Springerin so ergeht.
Simone Lappert: Der Sprung. Diogenes 2019. 333 Seiten.
Das Zitat stammt von S. 60/61.
Klingt insgesamt spannend, wobei eines eh klar ist. Dass nämlich niemand wirklich Angst vorm Fliegen, Angst vor dem Sprung hat, sonder eine Scheißangst vor der Landung.
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