Carlos Fuentes: Happy Families

„Loving means not talking about love“ happyfamilies

Die an Tarotkarten erinnernden Bilder auf dem Cover scheinen schon daraufhin zu deuten – Familie ist Schicksal. Sie ist die Vorsehung, der man nicht entkommen kann, ob man nun will oder nicht. Und sie ist die kleinste Scherbe des Spiegels der Gesellschaft, ein Mikrokosmos, in dem man jedes Detail des Gesamtbilds wiederfinden kann.

Fuentes erzählt in seinen Kurzgeschichten von sechzehn Familien, die vor allem ihr Unglück gemeinsam haben. An irgendeinem Punkt scheitern in diesem Buch alle Familien. Söhne, die sich gegen ihre Väter auflehnen, Töchter, die durch ihre despotischen Väter in lebenslanges Unglück gestürzt werden, ein Mann, der sich in die falsche Frau verliebt.

Doch all diesen Familien geht es bei allem empfundenen Unglück verhältnismäßig gut – sie gehören der mexikanischen Mittel- bis Oberschicht an, ein Mann ist sogar Präsident, die meisten haben Hausangestellte, zumindest aber leben sie alle recht komfortabel. Unterbrochen werden diese Familiengeschichten von den Chören der weniger Glücklichen, die am unteren Rand der Gesellschaft leben müssen und in abgehackten, verstörenden Sprechgesängen von Gewalt, Drogenkriegen und Bandenrivalitäten berichten. Auch diese Klagelieder werden von Menschen in ihren Funktionen als Familienmitglieder angestimmt: die bedrohten Töchter, die perfekten Ehefrauen, die Kinder der guten Familien. Sie stehen für die gesamte Gesellschaft, für die Gewalt in den Straßen von Mexico City, für von Machismo geprägte Strukturen.

Durch ihr Auftreten vermischen sie die gesellschaftlichen Aspekte mit dem Mikrokosmos der dargestellten Familien und verdeutlichen, dass die eine Struktur immer die andere bedingt und entscheidend prägt. Die Regeln der Gesellschaft sind auch die Regeln der Familie. Den dargestellten Personen ist es nahezu unmöglich, aus den Gewohnheiten und Regeln auszubrechen, die von der Familie auferlegt sind. Besonders deutlich wird dies in der Erzählung von den drei Schwestern, deren Vater forderte, dass sie zehn Jahre nach seinem Tod Trauer tragen müssen. Dass sie nicht heiraten, keine Kinder kriegen und sich nicht einmal selbst nackt betrachten dürfen. Auch zehn Jahre nach seinem Tod ist keine der Schwestern in der Lage, dem Vater gegenüber ungehorsam zu sein, als laste ein geheimnisvoller Fluch auf ihnen und nicht ein simpler Befehl. Themen aller Erzählungen sind vor allem die patriarchal geprägten Machtstrukturen in Gesellschaft und Familie, soziale Gefälle und daraus resultierende Gewalttaten sowie die koloniale Vergangenheit des Landes sowie die Schwierigkeiten, die diese bis heute mit sich bringt. Deutlich wird dies vor allem in der Geschichte eines Künstlers indigener Abstammung, der ein Mädchen tötet, weil er die Angst vor dem Wilden, die er in ihren Augen sieht, nicht mehr erträgt.

Unglücklich ist jede der „Happy Families“ in diesem Buch. Das aber ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit der Erzählungen. Fuentes versucht, möglichst unterschiedliche Familien darzustellen – Verwitwete, jung Verheiratete, ein homosexuelles Paar, eine Mutter, deren Tochter ermordet wurde. Leider schafft er es nicht, diese einzelnen Episoden zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, auch wenn einige wenige Personen in mehreren Erzählungen auftauchen. So bleibt es bei einer Sammlung von Kurzgeschichten, die einen Bruchteil der mexikanischen Gesellschaft porträtiert. Die meisten davon sind allerdings überzeugend.


Carlos Fuentes: Happy Families. Übersetzt von Edith Grossmann. Bloomsbury 2009. 331 Seiten, ca. € 13,-. Originalausgabe: Todas las familias felices. Alfaguara 2006.

Das Zitat stammt von S. 48

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