Vendela Vida: Des Tauchers leere Kleider

tauchersleerekleider„Dein Reiseführer Marokko hatte recht: Das Erste, was man nach der Ankunft in Casablanca tun sollte, ist Casablanca zu verlassen.“

Einer alleinreisenden Frau wird im Hotel am ersten Urlaubstag in Casablanca der Rucksack mitsamt Pass, Kamera und Kreditkarten gestohlen. Die Zusammenarbeit mit Hotelpersonal und Polizei erweist sich als schwierig, nicht zuletzt aufgrund sprachlicher Barrieren. Letzten Endes händigt der Polizeipräsident persönlich ihr einen Rucksack aus, der Pass und Kreditkarten enthält – nur leider nicht ihre, sondern die der ihr vage ähnlich sehenden Sabine Alyse. Von der Situation völlig überfordert und nicht fähig, entsprechend zu reagieren, nimmt sie die Dokumente an und findet ihre neue Identität kurz darauf gar nicht mehr so schlecht. Zwar plagt sie ein schlechtes Gewissen gegenüber der ihr unbekannten Frau, deren Kreditkarten sie fortwährend belastet, andererseits verschafft ihr der Identitätswechsel auch eine Erleichterung. Zuhause in Florida hat sie gerade die Scheidung eingereicht, zudem sitzt ihr ein lange nicht ausgesprochener Konflikt mit ihrer Zwillingsschwester im Nacken. Die neue Identität wird eine Hilfe auf der Flucht vor ihrem alten Leben.

Den Namen Sabine Alyse behält sie nicht lange, da sie ständig ihre Entlarvung fürchtet. Als ein Filmteam sie als Lichtdouble für eine bekannte Schauspielerin entdeckt, arbeitet sie unter dem Namen Reeves Conway. Die Entfernung von ihrer eigenen Identität wird immer weiter und vertrackter. Nun spielt sie nicht mehr die Rolle der Sabine Alyse sondern die Rolle der Reeves Conway, die als Lichtdouble mit Perücke die Rolle der Maria in einem Film spielt und als Double auch Teil der Außenwahrnehmung der Schauspielerin wird, was unschöne Folgen für die Schauspielerin hat.

Je weiter die Protagonistin sich von ihrer eigenen Identität entfernt, umso schwieriger wird ihr Weg zurück. Beim ersten Versuch, in der amerikanischen Botschaft den Diebstahl ihres Passes zu melden, verstrickt sie sich derart in Widersprüche, dass sie das Gebäude fluchtartig verlässt und keine weiteren Anlauf wagt. Der Wechsel der Namen wirkt nicht spielerisch oder übermütig sondern als von Furcht getriebene Notwendigkeit, als sei Sabine/Reeves/Jane/Aretha auf der verzweifelten Flucht vor großer Gefahr. Zugleich fragt man sich als Leserin, wohin diese Flucht führen soll. Wie lange will sie unter falschem Namen und mit rund 300$ Filmgage in Marokko untertauchen? Muss sie nicht irgendwann mal nach Hause und sich um ihre Scheidung kümmern?

Der Titel des Buchs bezieht sich auf ein Gedicht des persischen Mystikers Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī, kurz Rumi. Er befasst sich in diesem Gedicht damit, dass das Sein einer Person immer mehrere Eigenschaften hat, dass man in der eigenen Körperlichkeit fest verwurzelt sein kann wie eine Pflanze, zugleich aber unstet wie der Wind sein kann. Dass man „des Tauchers leere Kleider“ sein kann, die am Strand zurückgelassen wurden und zugleich der Fisch, der im Ozean schwimmt*.

Wie auch das Gedicht ist der gesamte Roman in der zweiten Person geschrieben, was eine ungewohnte Erzählperspektive ist, an die man sich erst einmal gewöhnen muss. Das permanente „du“ (du sitzt im Flugzeug, du springst in den Pool, du nimmst den Rucksack entgegen) erweckt den Eindruck, als sei die Protagonistin ferngesteuert, als müsste ihr, wie unter Hypnose, permanent gesagt werden, was als nächstes zu tun ist und als wäre sie selbst nur eine Beobachterin, die nicht immer versteht, warum die Dinge geschehen. Das schafft eine Distanz zur Handlung, andererseits wird man aber auch selbst permanent angesprochen, wodurch man fast zwangsweise überlegt, ob man diese Handlungsanweisung genau so befolgen würde. Zugleich vermittelt es den Eindruck, dass die Protagonstin in der Schockstarre, in der sie die USA verlassen hat, gar nicht anders kann, als Anweisungen zu befolgen.

Von Anfang an wird klar, dass die Protagonistin vor etwas flüchtet, dass es Menschen gibt, die ihr Geheimnis kennen und sie nicht entdecken dürfen. Das weckt große Erwartungen, man nimmt an, sie habe sich etwas Gravierendes zu Schulden kommen lassen. Doch der große Knall bleibt den ganzen Roman über aus. Vielmehr entdeckt man langsam eine persönliche Tragödie, welche die Protagonistin so mitgenommen hat, dass sie scheinbar in Trance durch Marokko taumelt, im Versuch, das Geschehene zu verarbeiten. Ob ihr das gelingt, indem sie von Identität zu Identiät flüchtet, sei dahingestellt. Die Möglichkeit, eine neue Person zu werden, die alte Hülle hinter sich zu lassen, ist im Ansatz interessant, kann aber von dieser instabilen und verletzten Protagonistin nicht in letzter Konsequenz genutzt werden. Eigentlich muss man sie aufs Sofa setzen und ihr Heißgetränke bringen, bis sie wieder weiß, wo oben und unten ist. Das wäre aber auch kein sehr guter Roman.


 Vendela Vida: Des Tauchers leere Kleider. Übersetzt von Monika Baark. aufbau 2016. 252 Seiten, € 19,95. Originalausgabe: The Diver’s Clothes Lie Empty. HarperCollins 2015.

Das Zitat stammt von S. 90 der deutschen Ausgabe.

* Ich habe im Internet keine deutsche Übersetzung des Gedichts gefunden, eine englische gibt es unter anderem bei rumidays. Ihre „ungeliebten“ Kleider lässt die Protagonistin bei der Flucht aus ihrem Hotel tatsächlich und nicht nur metaphorisch zurück. Man fragt sich, warum sie mit einem Koffer voll ungeliebter Kleider verreist, aber möglicherweise waren gerade keine anderen zur Hand.