Sinnsuche zwischen Nadelbäumen: „Die Kieferninseln“ von Marion Poschmann

Gilbert Silvester, aktuell Bartforscher in befristeter Anstellung, träumt eines Nachts, dass sein Frau ihn betrogen habe. Ohne weitere Klärung verlässt er am nächsten Morgen tief erschüttert die gemeinsame Wohnung und fährt zum Flughafen, wo er in das nächste Flugzeug steigt, das zu einem weit entfernten Ziel fliegt. So kommt er nach Tokyo. Freiwillig hätte er das nie gemacht, da er Tee-Kulturen meidet, weil sie, seiner Einschätzung nach, alles verkomplizieren und unter einem Schleier der Mystik verbergen. Dass er es nun doch tun muss lastet er klar seiner Frau an, die derweil zu Hause sitzt und sich fragt, wo ihr Mann abgeblieben ist.

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In Tokyo bleibt Gilbert nicht lang allein. Während er fasziniert das perfekt organisierte Treiben an einem Bahnhof beobachtet, trifft er auf Yosa Tamagotchi, den er mit völlig unbeherztem Eingreifen von einem Selbstmord eher ablenkt als abhält. Der Bahnsteig sei sowieso ein nur drittklassiger Ort für einen Selbstmord, erklärt Yosa und schließt sich Gilbert an, der den Plan entwickelt, auf den Spuren des Haiku-Dichters Bashō nach Matsushima, zu den Kieferninseln zu reisen. Überhaupt die Kiefern und die Wälder – sie spielen eine wichtige Rolle auf den japanischen Inseln und auch in diesem Roman. Gilbert erscheint es geradezu sinnlos, die Wuchsform der Bäume und die Form einzelner Äste zu bestaunen. Anders die Autorin. Sie begeistert sich für die Landschaften, durch die die beiden Männer reisen und beschreibt sie bis ins Detail.

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Von der Liebe zum Leuchtturm – Ray Bradburys Dinosaur Tales

Der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury, bekannt vor allem für seinen dystopischen Roman Fahrenheit 451, war ein begeisterter Dinosaurier-Fan. Einer Anekdote zufolge, die er auch selbst im Vorwort erwähnt, hielt er Dinosaurier sogar für das spannendste Thema der Weltgeschichte. Er hat nicht nur über Dinosaurier geschrieben, sondern auch am Film The Beast From 20.000 Fathoms mitgearbeitet, der sehr lose auf einer seiner Kurzgeschichten basiert.

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Der Sammelband Dinosaur Tales beinhaltet alle Dinosaurier-Texte von Bradbury, die ursprünglich in verschiedenen Sammlungen erschienen sind. Sieben Texte sind es, zwei davon Gedichte, alle illustriert von bekannten Zeichnern wie William Stout, David Wiesner und Moebius. Alle Texte haben sehr viele Bilder, ohne wäre das Buch sicher noch viel schmaler. Optisch macht das aber eine Menge her. Zudem sind die Texte eine gelungene Mischung. Es kommt eine Zeitreise inklusive Dinosaurier-Jagd darin vor, eine Geschichte über einen Mann, der an einem Trickfilm-T-Rex verzweifelt und natürlich die Geschichte eines Jungen, der sich nichts mehr wünscht, als dass es wirklich Dinos gäbe auf der Welt. Mein Favorit war allerdings die Geschichte eines Tiefsee-Sauriers, der sich in das einsame Rufen eines Nebelhorns verliebt und nicht verstehen kann, warum der Leuchtturm seine Gefühle nicht erwidert.

„I’ll make me a sound and an apparatus and they’ll call it a Fog Horn and whoever hears it will know the sadness of eternity and the briefness of life.“

Dinosaur Tales versammelt sicher nicht Bradburys beste und tiefschürfendste Prosa. Aber das ist ja auch gar nicht der Punkt. Dinosaur Tales versammelt Bradburys Prosa über Dinosaurier und das ist ein sehr sympathisches Thema für eine Kurzgeschichtensammlung. Bradburys Geschichten lesen sich, als habe das Staunen des Autors über die riesigen Echsen niemals aufgehört. Und wie sollte es auch?


Ray Bradbury: Dinosaur Tales. ibooks 2003. 144 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 102.

Tom Disch: Endzone – Letzte Gedichte

Der US-amerikanische Autor Tom Disch dürfte, obwohl in seinem Genre sehr bekannt, hierzulande fast nur ernsthaften SciFi-Fans ein Begriff sein. Für seine Romane, die er unter seinem vollen Namen Thomas M. Disch veröffentlichte, erhielt er unter anderem mehrfach den renommierten Nebula Award. Als er 2008 Suizid beging, hinterließ er aber auch eine beachtliche Gedichtsammlung. Einige davon veröffentlichte er in seinen letzten Lebensjahren auf seinem Blog endzone, der noch immer online ist.

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Seinem Selbstmord voraus gingen drei Jahre, in denen ein Schicksalsschlag auf den nächsten folgte. Nachdem sein Lebensgefährte Charles Naylor an einer Krebserkrankung gestorben war, drohte ihm der Verlust der ehemals gemeinsamen Wohnung, die auf Naylors Namen lief und auch das Landhaus des Paares wurde durch einen Wasserschaden unbewohnbar. Zudem litt Disch selbst mit Ende 60 an verschiedenen Erkrankungen, die eine gesellschaftliche Teilhabe immer schwieriger machten. Sein literarisches Schaffen war fast völlig zum Erliegen gekommen, außer ein paar eher unbedeutenden Veröffentlichungen in Kleinverlagen konnte er keine Erfolge mehr verzeichnen.

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Menschenfresser der Liebe

Im Erlanger homunculus Verlag ist in diesem Frühjahr zum dritten mal die Literaturzeitschrift Seitenstechen erschienen. Nach der Seefahrt und Dunkler Energie widmet sich diese Ausgabe nun dem Spannungsfeld zwischen Fressen und Liebe. Die im Titel vereinten Begriffe Kannibalismus und Liebe könnten auf den ersten Blick einander fremder nicht sein, das eine so grob und brutal, das andere so zärtlich und fein. Doch wirft man einen Blick auf Kultur- und Literaturgeschichte entdeckt man schnell, dass das Einverleiben und die Inbesitznahme von etwas oder jemandem oft mit gleichen Bildern beschrieben und verarbeitet werden und oft auch ähnliche Bedürfnisse zugrunde liegen. Als größtes Tabu in diesem Kontext gilt der Kannibalismus, der immer größtmögliches Grauen und Verständnislosigkeit hervorruft. Schauergeschichten von Menschenfressern machten im Kolonialismus die Runde, Märchen von wilden Völkern, die ahnungslose Expeditionsteilnehmer in den Kochtopf werfen galten als Distinktionsmerkmal – so wie die könnten wir nie sein. In Notsituationen auftretender Kannibalismus, wie auf dem Floß der Medusa etwa, sorgen für allgemeines Entsetzen. Einen Menschen zu essen, ob er nun schon tot war oder ob man ihn zu diesem Zwecke tötet, ist das Übertreten der äußersten zivilisatorischen Grenze.

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Der Wunsch aber, sich einen Anderen aus Liebe einzuverleiben, wird nicht nur in der Redewendung deutlich, man habe jemanden zum Fressen gern. Zugegeben, der Verzehr von Leichenteilen ist eine seltene Praxis. Asche von Toten aber wird, in einigen Kulturen legitimiert, in anderen sanktioniert, gar nicht so selten in irgendeiner Form konsumiert. Keith Richards beispielsweise gab damit an, die Asche seines Vaters zusammen mit Koks gezogen zu haben (dementierte aber später). Gelegentlich liest man von Menschen, die Asche von Familienmitgliedern oder Ehepartnern in Getränken verrührt zu sich genommen haben, damit sie bei ihnen und ein Teil von ihnen bleiben. Ekel und Verlangen liegen da nah beieinander.

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