Leben in der Abgehängtheit – „So forsch, so furchtlos“ von Andrea Abreu

An der Nordküste Teneriffas hat das Leben nicht viel mit den malerischen Bildern aus dem Reisprospekt zu tun. In einem trostlosen Dorf, das fast nur aus verfallenden Häusern besteht, wachsen zwei Mädchen auf und erleben gemeinsam einen trägen, schrecklich langen Sommer, in dem das Ende ihrer Kindheit droht.

So forsch, so furchtlos, das ist Isora, die beste Freundin der Erzählerin des gleichnamigen Romans. Sie sieht zu ihr auf, wie sie sich alles traut und vor nichts Angst zu haben scheint, nicht einmal vor scharfer Soße.

Die beiden wachsen in Teneriffa auf, im Norden der Insel und weit weg von allem, was die Insel so attraktiv für den Tourismus macht. Sie leben in einem trostlosen Dorf im Hinterland, dessen Architektur vor allem von illegal errichteten und nie ganz fertig gebauten Häuern geprägt ist. Beide leben mehr oder weniger bei ihren Großmüttern, im Falle der Erzählerin weil die Eltern die Tage im Süden verbringen, wo es Hotels zu bauen und zu putzen gibt. Im Dorf hingegen gibt es nur den Laden von Isoras Oma, wo man alles für den täglichen Bedarf kaufen und anschreiben kann.

Der Roman spielt in den Sommermonaten, es sind Ferien, das Wetter drückend und die Mädchen gelangweilt. Sie fühlen sich eingesperrt in dem Dorf, das man ohne Auto kaum verlassen kann und von dem aus die Strände, an denen sich in dieser Zeit die Touristen stapeln, für die beiden unerreichbar sind. Für sie bleibt ein Kanal, in dem tonnenweise Kiefernnadeln schwimmen und die Telenovelas, die sie mit ihren Omas gucken. Und natürlich der allgegenwärtige Blick auf den Vulkan, der als ständige subtile Bedrohung über der Insel thront.

Abreu erzählt nicht nur von den Schattenseiten ihrer Heimatinsel, vom Aufwachsen in Armut und begrenzten Möglichkeiten, sondern auch von einer intensiven Freundschaft. Die Erzählerin verehrt Isora zutiefst, und auch wenn sie „nicht solche Freundinnen“ sind, die sich an den Händen halten, so sind sie einander doch erste Referenz bei allem Körperlichen. Die Erzählerin entwickelt ein Begehren der Freundin gegenüber und eine Abhängigkeit, die verhindert, dass sie sich jemals ernstlich gegen sie wenden kann. Es ist ihr unmöglich, wütend auf die Bewunderte zu sein, so tief die Verletzungen auch sein mögen. Isora ist das Zentrum ihres Alltags, die mutige Freundin, in vielen Belangen ein Vorbild. Sie spielen Barbies zusammen und masturbieren zusammen, sie stehen gemeinsam an der sensiblen Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen konsequenzenloser Albernheit und ernster Verpflichtung.

„Und obwohl ich mir vorgenommen hatte, sie zu hassen, sagte ich Ja, und ich hätte auch Ja gesagt, wenn sie mir mit Stachelschuhen über den Rücken gelaufen wäre, auch wenn sie mir in die Augen gespuckt hätte, auch wenn.“

– S. 138 – 139

Abreus Sprache und Themenwahl macht dem Titel ihres Romans alle Ehre, feinsinnigen Lesegenuss darf man hier nicht erwarten und man muss ein bisschen was ertragen. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, erzählt vom Kotzen nach dem Mittagessen, Zecken im Schritt, widerlichen Streichen, Katzenkacke und der gesamten Rauheit, die das Aufwachsen in der Abgeschriebenheit mit sich bringt. Alles, was an diesen Mädchen noch zart und zahm sein könnte, geht verloren in der Umbarmherzigkeit ihrer Umgebung, im hoffnungslosen Blick in die Zukunft. Von ihrem Umfeld lernen sie Zorn und Verbitterung, die Wut auf die, die es besser und leichter haben in der Welt und darauf, dass die eigene Straße selbst beim Dorffest ungeschmückt bleibt und nicht mal das Geld für eine popelige Girlande bleibt.

So forsch, so furchtlos erzählt in einem sehr eigenen Ton vom Aufwachsen, von der Angst und Überforderung, aber auch von Hoffnungen und Träumen und von den zwei Welten, in die der Tourismus die Insel teilt. Kein leicht zu lesendes Buch, aber ein beeindruckender erster Auftritt und ein sprachliches Auf-den-Tisch-hauen, eine Verweigerung gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungen an ein nettes, folgsames, angepasstes Aufwachsen als Mädchen. Und ein Ende, das einem den Boden unter den Füßen wegreißt.


Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos.
Aus dem Spanischen (OT: Panza de Burro, Editorial Barrett) übersetzt von Christiane Quandt.
Kiepenheuer & Witsch 2024, 192 Seiten.

978-3-462-00658-2


Eine Antwort zu „Leben in der Abgehängtheit – „So forsch, so furchtlos“ von Andrea Abreu”.

  1. Avatar von Mail
    Mail

    Danke für die spannende Rezension

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