Die Last des Schweigens – „Wie meine Familie das Sprechen lernte“ von Leyla Bektaş

In Wie meine Familie das Sprechen lernte verfolgt Protagonistin Alev die Geschichte ihrer Familie zwischen Deutschland und der Türkei, zwei Ländern, in denen sie immer wieder Schwierigkeiten hat, sich zugehörig zu fühlen.

„Eins sewei derei“ bringt Alev ihrem Onkel Cem die Zahlen bei. Das Sprechen aber lernt ihre Familie davon noch nicht. Alev ist in Deutschland aufgewachsen, ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater ist aus der Türkei nach Köln gekommen. Für ihre Familie ist die Türkei ein schwieriges Pflaster. Sie sind Aleviten, ein Umstand, von dem Alev erst sehr spät erfährt. Viele in ihrer Familie haben deshalb Repressionen und Gewalt erfahren und früh gelernt, dass man über die Religion besser einfach nicht spricht und sie für sich behält, so lange es geht.

Bektaş nimmt den Faden der Familiengeschichte in den späten 70er-Jahren auf und führt die Geschichte der Familie bis ins Jahr 2017, über Ankara und Istanbul nach Köln, wo Alev sitzt und einen Artikel schreiben soll zum Putschversuch in der Türkei. Weil sie als Tochter eines Türken ihn versteht und dazu eine Meinung hat. Alev ist komplett überfordert damit, 2000 Wörter zu finden für ein Thema, über das sie so viel sagen könnte und doch glaubt, nicht im Ansatz zu verstehen.

Alev spricht kaum türkisch. Ihr Vater hat die Sprache mit ihr gesprochen, als sie noch sehr klein war, aber ihre Mutter glaubte, dass die zweisprachige Erziehung dem Kind nur schaden würde. Wenn sie die Heimat ihres Vaters besucht, kann sie mit den Verwandten kaum sprechen und eigentlich nur Höflichkeitsfloskeln austauschen. Sie findet Wege, mit ihnen zu kommunizieren, aber wie soll man da nach einer Familiengeschichte fragen, nach Hintergründen, Schmerz, Verlust und Hoffnungen? Als wäre das nicht ohne Sprachbarriere schon schwer genug. Die Erzählungen ihrer Großmutter, die großartigen Witze ihres Onkels, all das muss Wort für Wort übersetzt werden.

„Hab ich denn so wenig erzählt? Das tut mir leid.“

– S. 294

Bektaş lässt die Geschichte nicht nur von Alev erzählen. Sie springt zwischen Figuren und Orten, lässt jeden mal im Rampenlicht stehen. Ihr Vater und seine Brüder erzählen ihre Versionen der Familiengeschichte, aus verschiedenen Orten und Zeiten, von Revolutionsversuchen und dem Dasein als Dorflehrer. Aus den Fragmenten entsteht so nach und nach ein Bild einer bewegten Zeit und einer Familie mitten darin, die versucht, einander nicht zu verlieren und den roten Faden in den gemeinsamen Geschichten, den schönen wie den brutalen, finden kann.

Doch für Alev ist es mühsam, diesem Faden zu folgen, nicht nur wegen der Sprachbarriere. Sie hat immer das Gefühl, etwas nicht zu wissen, etwas nicht zu verstehen, Entscheidendes zu verpassen. Bektaş verknüpft diese persönliche Erfahrung mit der generellen Frage, warum wir manches nicht erzählen. Oft steckt in dieser Familie nicht Gleichgültigkeit dahinter, sondern der Wunsch, anderen etwas zu ersparen. Die Brutalität für sich zu behalten und sie dem Gegenüber zu ersparen. Manchmal ist es besser, wenn man nicht weiß und doch sitzt Alev Stunden vor ihrem Computer und guckt auf YouTube Videos über das Massaker gegen Aleviten in Sivas. Sie will nicht mehr verschont werden, sie will verstehen.

Wie meine Familie das Sprechen lernte erzählt auf ruhige Art von unruhigen Zeiten und einer ebenfalls unruhigen Protagonistin. Alev drängt es immer weiter und doch weiß sie nicht, welchen Weg sie gehen soll, fühlt sich unsicher zwischen den Identitäten, die ihr angeboten werden, mit den zwei Pässen in der Tasche, von denen einer schwerer und schwerer wird. Mit 2017 hat die Autorin ein besonders bewegtes Jahr der jüngeren türkischen Geschichte gewählt, von dem aus sie den Blick zurück wirft auf alte Geschichten, die man aber braucht, um die neuen verstehen und erzählen zu können. Am Beispiel einer Familie erzählt Bektaş von Gewalt und Verfolgung, aber auch von Liebe, Erfolg und glänzenden Festen. Ein gelungenes Debüt, das daran erinnert, dass Menschen die Summe ihrer Geschichten sind – den erzählten, den verschwiegenen, den vergessenen und natürlich den erfundenen.


Leyla Bektaş: Wie meine Familie das Sprechen lernte.
Nagel und Kimche 2024, 318 Seiten.

978-3-312-01334-0


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