Die Chronik der Mäuse – „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ von Yulia Marfutova

Wenn die eigene Mutter nicht von der Familiengeschichte erzählen will oder kann, woher soll man dann alles erfahren? In diesem Roman übernehmen ein paar Mäuse die Aufgabe des Familienchronisten und erzählen gleich von mehreren Generationen politischer Verfolgung und einem Trauma, das keine Worte findet.

Höchstens spatzengroß ist in Yulias Marfutovas zweitem Roman nicht nur die Chance, sondern auch die Erzählinstanz. Es sind Mäuse, die drei Mädchen, siebzehn, sechszehn und zehn, ihre Familiengeschichte erzählen. Ob sie wirklich so viel wissen, wie sie behaupten – das sei mal dahingestellt. Mehr als einmal verheddern sie sich in ihrer umfangreichen Chronik und kommen mit den sorgsam archivierten Quellen durcheinander.

Einiges wissen sie aber zu berichten aus der Familienchronik und vor allem aus den Kapiteln über Marina, der Mutter der wissbegierigen Mädchen. Marina, Tochter von Nina und einem verschwundenen Vater, aufgewachsen in Moskau, der stolzesten Stadt der Sowjetunion. Eigentlich heißt man anders in ihrer Familie – Esther, Etja, Riwa zum Beispiel, und so steht auch in ihren Pässen, aber solange man irgendwie verbergen kann, dass man Jüdin ist, macht man es besser auch. Der falsche Name ist da der leichteste Weg.

Als Marina aufwächst, lebt in der Etage unter ihr Vera, zwei Jahre älter, viel verwegener und mit einem ausgewanderten Cousin gesegnet. Aus der neuen Heimat jenseits des Ozeans schreibt er einen Brief, der Träume weckt in Marina von einem Leben fern der stolzen Stadt. Dabei steht gar nichts Besonderes drin, aber sie ist sich plötzlich sicher: Die halbe Stadt liegt schon verlassen, die Menschen haben ihr Glück längst anderswo gefunden, die andere Hälfte bekommt Briefe wie diesen und träumt vom besseren Leben. Und da will sie auch hin, wo immer es ist, was immer es kostet. Bis es soweit ist, bleiben nur kleine Fluchten in die relative Freiheit in der Datscha von Veras Familie.

„Alle Familiengeschichten sind Mäusegeschichten. Wer soll sie sonst erzählen, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen?“

– S. 97

Vorerst aber bleibt sie in Moskau, in einer kleinen Wohnung, die immer noch besser ist, als alles, was ihre Vorfahren sich vorstellen konnten, und die sie mit ihrer Mutter teilt. Ihrer Mutter, die anders ist als andere Mütter, sich nicht so sehr an den Krümeln auf dem Boden stört und nachts Träume hat, denen sie eine tiefere Bedeutung beimisst. Die schwört, ihre Blinddarmnarbe sei verschwunden, nachdem sie eine Séance im Fernsehen gesehen hat. Die aber auch Ingenieurin ist und rational und weiß, dass manche Wörter und Gedanken nur für zu Hause sind.

Die Mäuse erzählen bruchstückhaft, in Szenen, nehmen ihre jugendlichen Zuhörerinnen mit in die kleine Wohnung in Moskau und in die staubige Bibliothek, in der Marina an manchen Nachmittagen arbeitet, zu den Sochnut-Treffen und dem oy vey iz mir der Vorfahren, die noch im Schtetl lebten. Zeit für Erklärungen und Hintergründe nehmen sie sich nicht. Wer sich nicht zumindest in groben Zügen auskennt mit der Politik der Sowjetunion, wer mit Begriffen wie Pamjat, Holodmor und der Perestrojka gar nichts anfangen kann, der wird sich an einigen Stellen schwertun, zumal Zusammenhänge und Ereignisse oft nur angedeutet werden. Oder man folgt eben dem Rat der findigen Mäuse, zieht schnell das Handy aus der Tasche und guckt nach.

Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel ist locker und episodenhaft erzählt, im Kern ist es aber eine gar nicht leichte Familiengeschichte, die sich so oder so ähnlich millionenfach ereignet hat und deren Trauma sich bis in die letzte Generation fortsetzt und vielleicht weiter fortsetzen wird. Im Roman ist es auch Marina, die sprachlos bleibt, ihren Töchtern nicht erzählen kann oder zumuten will, was in ihrer Familiengeschichte vorgefallen ist und was passieren musste, damit ihre Kinder nun in einem anderen Land, mit einer anderen Sprache aufwachsen. Hier müssen die Mäuse einspringen, als Bewahrer von Schriftstücken, Geschichtsbruchstücken und Krümeln vom Küchenboden. Diese Erzählperspektive ist literarisch durchaus ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig, aber man gewöhnt sich schnell an die allwissenden und fordernden Nager, denn sie erfüllen ihre Aufgabe mit Begeisterung, Ernsthaftigkeit und vorwitzigem Humor.


Yulia Marfutova: Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel.
Rowohlt 2025, 140 Seiten.

978-3-498-00769-0


Dieser Roman wurde vom Verlag als Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt. Weder waren daran Bedingungen geknüpft, noch hat dieser Umstand meine Meinung beeinflusst.


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