Vier Frauen sind in Prizkaus Sanatorium in Behandlung. Oder auch nicht, denn an einen wirklichen Behandlungserfolg scheint keine von ihnen zu glauben. Sie alle haben unterschiedliche Gewalt erfahren – psychisch, physisch, politisch. Das hat sie hierher gebracht, in diesen gesichtslosen Block einer Gesundheitseinrichtung, in dem sie nun versuchen, Sinn in ihren Erlebnissen und den der anderen zu finden.

Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch ist Anna im Sanatorium. Die literarische Tradition hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass diesem Wort bis heute ein mondäner Geist anhaftet, an Balkone, weiten Blick und in Würde gealterte Gebäude denken lässt*. Der Alltag hinter der schlichten rot-braunen Fassade dieser Gesundheitseinrichtung gestaltet sich jeden Tag gleich: Schwimmen, Gruppentherapie, Einzelgespräche, jeden Mittag Hühnereintopf in der Cafeteria. Zwischendrin Zigaretten und Gespräche im Raucherpavillon. Anna entzieht sich der Langeweile der Einrichtung oft, um in den Kurpark zu gehen. Dort gibt es Pepik, einen Flamingo, den sie nach dem Sittich getauft hat, den sie in der Heimat ihrer Kindheit zurücklassen musste, und dem sie sich im Stillen anvertraut.
Zum Glück findet Anna im Sanatorium zwei Freundinnen, die ihr Leid und ihren Überdruss teilen, wobei Freundschaft in dieser Schicksalsgemeinschaft vielleicht ein zu großes Wort ist: Elif, die sonst mit ihren Eltern einen Spezialitätenstand vor Kaufland betreibt und Marija, die nicht aufhören kann, von ihren Eltern zu erzählen, die in einer nicht näher benannten Sowjet-Republik gefeierte Dichter:innen waren, bis sie dem Regime zu unbequem wurden. Die vierte Frau ist Katharina, eine Soldatin, die sich von ihrem Einsatz in Mali erholen soll. Sie kommt allerdings erst ins Sanatorium, als Elif schon entlassen wurde und Anna ein dickes Notizbuch hinterlassen hat, in dem sie ihre Geschichte erzählt. Oder auch nicht.
„Wahrscheinlich war es eine Intuition, der alle Kranken folgten: Es war verboten, einander nach dem Grund des Aufenthalts zu fragen.“
– S. 134
Denn Prizkau spielt mit ihren Figuren und ihrer Glaubwürdigkeit. Das, was Elif in ihrem Notizbuch schildert, entspricht gar nicht dem, was sie in den Gruppensitzungen von sich erzählt hat. Anna beginnt sich zu fragen, welche Version von Elifs Geschichten der Wahrheit entspricht, zumal sie auch Geschichten von Mitpatient:innen erzählt. Haben die sie in ihre tiefsten Geheimnisse eingeweiht oder denkt Elif sich einfach was aus? Vielleicht, denn die eine goldene Regel im Sanatorium lautet: Frag niemals, warum ein anderer da ist. Daran hält Anna sich selbstverständlich auch dann noch, als sie sich in David verliebt, der manchmal überbordend liebevoll und manchmal grob ist, und von dem sie schon gerne wüsste, was seine Krankheit ist. Denn die Version in Elifs Tagebuch klingt besorgniserregend – ist vielleicht aber auch gar nicht wahr.
Das Spiel mit dem Wahrheitsgehalt alles Geschilderten trägt den Roman. Denn natürlich muss man sich auch fragen, wie sehr man einer Ich-Erzählerin vertrauen möchte, die seit Wochen ihre Tabletten in der Toilette runterspült oder versteckt, bis auf die eine, die ihr beim Schlafen hilft. Ob sie sich selbst vielleicht einfach im besten Licht darstellen möchte und Wesentliches verschweigt. Ob ihr Vater wirklich so ungezählte Affären hatte, von denen eine gar zum Grund für die Flucht nach Deutschland wurde. Ihre Eltern zumindest scheinen das anders zu sehen. Diese Ungewissheit erzeugt eine gewisse Distanz zur Hauptfigur und erst recht zu den übrigen Menschen im Sanatorium, über die man nur durch diverse Wahrheit-Filter etwas erfährt. Sie bleiben schemenhaft und wenig greifbar, nachdem Anna erzählt hat, was Elif über das aufgeschrieben hat, was Marija über ihre Eltern gesagt hat. Die Folgen dieser Erzählungen und Erlebnisse lassen sich erahnen: Individuelle Wege des Unglücks, der Angst und Verletzung, die am Ende alle im gleichen gesichtslosen Block einer Klinik landen.
Eine Hoffnung oder den Anspruch, geheilt aus dieser Zeit hervorzugehen, hat kaum eine der Figuren. Das Sanatorium ist eine Art Zwischenraum mit eigenen Regeln, eine Zeit, deren Ende und Ausgang ungewiss ist und in der sich deswegen kaum jemand Gedanken um das Danach macht. Es ist ein Zäsur in der Lebenszeit, von der Anna Prizkau hier erzählt. Die Längen und Ratlosigkeit, die in solchen Situationen zuweilen auftreten, bleiben einem auch beim Lesen nicht in Gänze erspart und manchmal vermisst man einen roten Faden, der die unterschiedlichen Geschichten zusammenhält. So bleibt es bei genau dem, was der Titel verspricht: Es sind Frauen im Sanatorium, die sich zuvor nicht kannten, die während ihres Aufenthalts notgedrungen eine mehr oder weniger starke Bindung eingehen und dann wieder in die Unwägbarkeiten der Welt und ihrer Komplikationen geworfen werden. Davon aber hört man schon nichts mehr.
* Eine Freundin von mir war mal in einem ehemals mondänen Sanatorium, das in Würde so weit gealtert war, dass man die Balkone mit max. 100 kg belasten durfte und das Schwimmbad für immer gesperrt war. Es sah aber wirklich sehr schön aus.


