In der Weimarer Republik war Gabriele Tergit eine gefragte Gerichtsreporterin. So gefragt, dass sie sich aussuchen konnte, von welchen Fällen sie berichtet. Einige ihre Reportagen sind in diesem Band gesammelt und geben einen aufschlussreichen Einblick in die Gesellschaft der 20er und 30er-Jahre.

Vom Frühling und von der Einsamkeit – der Titel verheißt beinahe poetisch ein bisschen Leichtigkeit und ein bisschen Melancholie und liefert beides. Aber auch eine Menge Elend, zerstörte Hoffnungen, Not, Angst und Gewalt. Ab 1924 schrieb und veröffentlichte Gabriele Tergit Gerichtsreportagen, zunächst für den Berliner Börsen-Courier, dann für das Berliner Tageblatt und schließlich für die Weltbühne. Ergänzt wird diese Sammlung um einige Texte, die sich unveröffentlicht in ihrem Nachlass fanden.
Das Gericht in Moabit war berühmt und berüchtigt und Tergit nicht die einzige Künstlerin, der die dort verhandelten Fälle als Inspiration und Vorlage dienten. Hier wurde vom Schwangerschaftsabbruch über Brandstiftung und Betrug bis hin zum Mord alles verhandelt. Alle Schichten der Berliner Gesellschaft gingen hier ein und aus. Die Prozesse, denen Tergit beiwohnte, reichen von der skurrilen Aufregung über ein wirkungsloses Mückenmittel bis hin zum bitterernsten Prozess, an dessen Ende nicht weniger als die Todesstrafe stehen kann.
Tergits Sympathien sind auf der Seite der Schwachen. Sie ist nicht groß um Neutralität bemüht und ihre Reportagen sind oft genug auch gesellschaftlicher Kommentar. Mit Sympathie betrachtet sie Mädchen von der Straße und die angeklagten Tagelöhner, die die geschwollene Sprache des Gerichts gar nicht erst verstehen und sich in ihrer ganz eigenen Überzeugung von Moral und Recht um Kopf und Kragen reden. Mit Unverständnis schreibt sie mehrfach über den völlig veralteten Paragraphen 218, der 1925 Menschen hinter Gitter brachte, nichts verhinderte und niemandem half. Hundert Jahre später aber… Ach Gabriele, was soll ich dir sagen.
Hundert Jahre später liest man von einer Justiz, die sich mehr und mehr auf Seiten der erstarkenden Rechten schlug, Gnade vor Recht walten lies wo Nationalisten vor Gericht standen und mit aller Härte zuschlug, wo eben diese zu Schaden gekommen waren. Tergit war eine scharfe Beobachterin und nahm früh einen Wandel in der Gesellschaft wahr, eine Verschiebung in der Sprache und erst recht im Umgang. Immer mehr politische Gewalttaten wurden vorm Moabiter Gericht verhandelt, der Ton in Tergits Reportagen wird ernster und besorgter, die launigen Berichte aus dem „Moabiter Bilderbogen“ seltener.
„Willkür fast, so scheint es, dass wirkliche Menschen auf der Anklagebank sitzen. Musterbeispiele gleichsam. In zwei Schwurgerichtssälen macht sich Historie breit.“
– S. 100
Im Februar 1933 enden ihre Gerichtsreportagen. Tergits kritische Berichte hatten sie in die Schusslinie der Nationalsozialisten gebracht, nicht zuletzt wegen mehrerer Berichte von Prozessen, bei denen Hitler persönlich zugegen war. Zuletzt hatte sie 1932 von einem Gerichtstermin berichtet, bei dem man ihn in ihrem Empfinden auftreten lies wie einen künftigen Monarchen. Nur wenige Monate später und nach einem versuchten Überfall durch die SA emigrierte Tergit mit ihrer Familie nach Jerusalem.
Nicole Hennebergs Name ist untrennbar mit dem Tergit-Revival verbunden, das es glücklicherweise seit einigen Jahren gibt. Auch für Vom Frühling und von der Einsamkeit hat sie die editorische Arbeit übernommen, die Texte ausgewählt und ein Nachwort verfasst. Das Ergebnis ist eine Sammlung, die das breite gesellschaftliche Spektrum der Zwischenkriegsjahre abbildet: den Glanz, das Elend und vor allem die Zerrissenheit der Gesellschaft, die so kurz vorm Kippen war. Tergits Reportagen sind manchmal rührend, manchmal unterhaltsam und oft eine gruselige Erinnerung daran, wie wenig sich seitdem getan hat und wie vieles jederzeit passieren kann.


