Ein Mensch zu sein – „Die Einsamkeit der ersten ihrer Art“ von Matthias Gruber

Auf alten Festplatten vergessene Krypto-Währung finden – das ist der große Traum von Arielles Vater. Arielle findet immerhin Bilder einer hübschen Unbekannten und kann sich damit ihren ganz eigenen Traum erfüllen: Likes, Komplimente und Tausende von Followern.

Arielle, genannt Ari, fällt auf. Sie hat keine Haare, ihr fehlen Zähne, Schweißdrüsen hat sie keine. Eine seltene Erbkrankheit schlägt bei ihr voll durch. Ihr Freundeskreis beschränkt sich auf ihre Klassenkameradin Yasmin und Joshi, den Sohn des Müllhaldenbetreibers, bei dem ihr Vater kartonweise Festplatten kauft, in der ewigen Hoffnung, darauf einen vergessenen Krypto-Schatz zu finden.

Den findet er nicht, dafür findet Arielle Pauline. Auf einem achtlos weggeworfenen Handy sind unzählige Fotos einer normschönen jungen Frau gespeichert. Innerhalb kürzester Zeit und mit ein bisschen Talent für tiefschürfende Sprüche generiert Ari damit einen extrem erfolgreichen Account mit Tausenden von Followern und tritt eine Dynamik los, die sie schon bald nicht mehr einfangen kann. Ganz im Gegenteil – als sie selbst schon lange genug hat, geht es erst so richtig los und Ari verstrickt sich immer weiter in ihrem Lügennetz.

Ari nutzt Paulines Bilder um die Likes und die Anerkennung zu bekommen, die sie selbst sich nie erhoffen würde. Sie findet sich selbst zu hässlich, das ist ihr auch lange genug gesagt worden, und würde sich nie trauen, Bilder von sich ins Internet zu stellen. Dass selbst ihre Freundin Yasmin sie aus ihren Bildern schneidet, bevor sie sie postet, ist ihr natürlich längst aufgefallen. Pauline hingegen posiert braungebrannt vor Urlaubskulissen und verkörpert, was die Welt sehen will. Ari wird niemals braungebrannt sein, sie erträgt den Sommer schon im Schatten kaum und liegt in den warmen Monaten vor allem auf dem kalten Kellerboden. Auch eine Urlaubskulisse ist ihr nicht vergönnt. Ihre chronisch kranke Mutter versucht mit einem Kosmetik-Pyramidenschema Geld zu verdienen, ihr Vater entrümpelt Wohnungen. Wenn nicht bald der erhoffte Krypto-Schatz auftaucht, wird die Familie für immer in der Gemeindewohnung am Stadtrand bleiben und der Urlaub bleibt ewig unerreichbar.

„Einer kommt zur Welt und ist anders als alle anderen. Und dann ist er ganz allein da draußen.“

– S. 117

Ihre Andersartigkeit ist Ari schmerzlich bewusst. Im Naturkundemuseum bestaunt sie das Bild der ersten krokodilartigen Kreatur, die an Land gegangen ist. Ein Fehler, wie ihre Freundin Yasmin bemerkt, wäre sie mal lieber im Wasser geblieben, als sich dieser brennenden Welt auszusetzen. Ari fragt sich, wie das ist, den bisherigen Lebensraum zu verlassen, noch einmal einen Blick auf das zu werfen, was unter der Oberfläche schwimmt um dann immer bergan die Welt zu erobern. Sie interessiert sich allerdings eher für den umgekehrten Weg – anders als ihre fischflossige Namenspatin träumt sie nicht davon, ein Mensch zu sein, sondern davon, als erster Mensch ein Fisch zu werden, in einem Lebensraum zu sein, in dem man weder Haare noch Schweißdrüsen braucht.

Die Einsamkeit der ersten ihrer Art ist geprägt von einer melancholischen, manchmal fast resignierten Stimmung. Die Träume, denen die Figuren nachjagen, bleiben unerreichbar und mitunter werden sie sogar grausam dafür bestraft, ihren Platz in der Gesellschaft nicht klaglos zu akzeptieren. Gruber thematisiert aber nicht nur die Schwierigkeiten im Leben Aris und ihrer Famile, sondern schreibt mit diesem Roman auch einen Kommentar auf die potemkinschen Dörfer von Instagram, die Beschissenheit von Online Dating und auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre, die nicht nur in Österreich den Nationalismus erstarken lässt.

Matthias Grubers Debüt-Roman ist eine Jugendgeschichte voller Schmerzen und Humor, geprägt von Andersartigkeit und wilden Träumen und eine sehr überzeugende Erzählung aus der Uferzone der Gesellschaft.


Matthias Gruber: Die Einsamkeit der ersten ihrer Art.
Jung und Jung 2023, 304 Seiten.

978-3-99027-280-0


Was sagst du dazu?