In seiner hoch subjektiven Literaturgeschichte befasst sich Frank Witzel mit der Frage, warum manche Stimmen so völlig in Vergessenheit geraten und bemüht sich darum, zumindest einige von ihnen vor dem Untergang zu bewahren – und das auf eine sehr spezielle und unterhaltsame Art.

Für die 100. Ausgabe des Schreibhefts schrieb Frank Witzel vor einiger Zeit einen Essay über „aufgegebene Autoren“, eine Aufzählung von 100 Stimmen, die man heute fast nicht mehr kennt, und die er mit seiner Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts erheblich erweitert.
Die völlige Subjektivität dieser Auswahl steckt schon im Titel, der nicht für sich reklamiert, ein Kanon zu sein oder eine Liste dessen, was man gelesen haben muss, wenn man mitreden will. Witzel befasst sich mit dem Frage, warum literarische Stimmen in Vergessenheit geraten, warum einige Menschen für eine Weile publiziert werden um dann völlig von der Bildfläche zu verschwinden und dem Dilemma, dass man sie nicht alle retten kann. Er findet die vergessenen Werke, glaubt man seinen Aufzeichnungen, wieder in antiquarischen Wühlkisten oder in vergilbten Verlagsbroschüren, die in alten Büchern stecken und längt eingestellte Reihen bewerben oder auch in älteren Literaturgeschichten, die dokumentieren, was im Jahr ihres Erscheinens als lesenswert galt.
Ob man ihm aber durchgehend Glauben schenkt, sollte man sich gut überlegen, denn ein ganz großer Teil der vorgestellten Autor*innen ist ein Produkt der Kreativität des Autors. Bedauerlich, hätte ich doch Fräulein Landauer zum Diktat! aus der Feder der auf das Sekretärinnen-Milieu spezialisierten Autorin Annabel Sagmeister gerne gelesen. Allein – es scheint sie nicht zu geben, obwohl sich im Innenteil des Buchs sogar ein Foto von ihr findet. Man muss mutmaßen, dass auch die Aufnahme des vorgeblichen Autor Florian Rumpenheimer, entstanden bei einem Klassentreffen 1950, dem Witzelschen Familienalbum entstammt oder ebenfalls zwischen den Seiten eines antiquarisch erworbenen Buchs steckte. Das Lesen der Literaturgeschichte gerät zu einem Ratespiel, ob man gerade eine reale Biographie liest und wessen Text hier wirklich zitiert wird. Die Zeichnungen von Peter Kurbacher jedenfalls, Autor und bildender Künstler, ähneln ganz frappierend denen des Autors und bildenden Künstlers Frank Witzel. Oder ist es am Ende umgekehrt? Der wunderbare Titel Hupen Jolly fahrt Elektroauto des Wiener Autors Minik Steiger existiert zu meiner Freude hingegen tatsächlich.
Einige Autor*innen werden nur kurz erwähnt mit mehr oder weniger ausführlichen Werksverzeichnissen, von anderen werden längere Passagen zitiert. Zu letzteren zählt die Poetry Slammerin Sam E. Final, die es gibt oder nicht, deren Text aber auf jeden Fall so Slam-tauglich ist, dass man die zu nah am Mikro zu hart gesprochenen Plosive hört. Die Menge der Texte und Stile, die hier versammelt sind, ist beeindruckend, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil von nur einer Person verfasst wurde.
„Das Leben der Autoren scheint somit eingerahmt vom weiten Meer der Anonymität, dem sie mit großer Kraftanstrengung entsteigen müssen, um mit ebenso großer Mühe zu verhindern, allzu bald wieder dorthin zurückzukehren.“
– S. 10
Irgendwann hört man auf zu hinterfragen, welche Stimmen wirklich verstummt sind und welche es nie zu hören gab, was vielleicht wirklich geschrieben, aber nie publiziert wurde. Auch das ist eine Frage, mit der sich diese Literaturgeschichte befasst – wann entsteht Literatur? Wenn sie in den „Betrieb“ gerät? Oder schon, wenn sie noch in der Schublade schlummert oder gar in den Köpfen derer, die sie erschaffen wollen oder zumindest könnten? Was ist mit Literatur, die für die rein orale Produktion geschaffen wird, wie eben Slam Poetry, die nie dazu gedacht war, gedruckt zu werden? Über all diese Fragen vergisst man die Frage nach der Echtheit der Porträtierten, zumal Menschen mit Namen wie Ernst Müller ohnehin ungooglebar sind, wenn man sich nicht ergebnislos durch diverse LinkedIn-Profile und Partei-Ortsgruppen scrollen will. Aber wer weiß, wer von denen nach Feierabend auch noch schreibt, ob für die Schublade oder den Betrieb.
Witzel gelingt in seiner Literaturgeschichte ein sehr schöner Spagat zwischen der sehr ernsthaften Auseinandersetzung mit den Gesetzmäßigkeiten des Literaturmarkts und einer großen Freude an der Hochstapelei, die manchmal beinahe an Albernheit grenzt, aber am Ende nichts als Literatur präsentiert, halb erinnerte und halb vergessene. Frank Witzels Literaturgeschichte hat meine Leseliste nur minimal verlängert, trotzdem hat sie weit mehr Substanz und Anspruch als so manche „was man gelesen haben muss“-Bibliographie auf dem Markt.


