Einst wohnte ein Riese im Wald – „Elmet“ von Fiona Mozley

John Smythe, der Riese mit dem archaischen Namen, hat seiner Familie ein ruhiges wenn auch nicht gesetzeskonformes Leben im Wald aufgebaut. Doch seinem Gerechtigkeitssinn folgend legt er sich mit einem übermächtigen Gegner an und setzt alles aufs Spiel.

In Yorkshire, dort, wo früher das historische Königreich Elmet war, lebt ein Riese mit seinen Kindern. Der Riese hat die stärksten Arme des ganzen Landes und das weichste Herz der ganzen Welt.

So märchenhaft könnte man Elmet von Fiona Mozley erzählen. Man kann auch von John Smythe erzählen, der mit seinen Kindern Daniel und Cathy ein Stück Land besetzt, mit seinen eigenen Händen ein Haus samt Möbeln baut, wildert und seine Kinder nicht mehr in die Schule schickt. Die Wahrheit ist irgendwo dazwischen, Fakt ist, dass man ihn in der ganzen Umgebung kennt, fürchtet und respektiert weil seine Fäuste noch keinen Kampf verloren haben. Smythe ist wirklich sehr groß und sehr stark, verdient sein Geld mit illegalen Kämpfen und treibt gelegentlich Geld für Freunde ein.

Er hat aber auch ein großes Herz und einen großen Gerechtigkeitssinn. Er wildert, das ist wahr, legt aber großen Wert darauf, dass die Tiere möglichst ohne Qual sterben und besteht darauf, dass große Lagerfeuer vor dem Entzünden nochmal umgeschichtet werden, damit keine Tiere sterben, die darin ihr Quartier gefunden haben. Igel trägt er in seinen riesigen Pranken in die Sicherheit und hat weder gegen seine Frau noch gegen seine Kinder jemals die Hand erhoben. Seine Freunde können auf ihn bauen, seine Feinde müssen ihn fürchten.

„As soon as he had shaken off his boots, his Goliath arms pulled me into an embrace and I wondered what it would be like to touch a real whale, and I knew that despite what Vivien had said, Daddy was both more vicious and more kind than any leviathan in the ocean. He was a human and the gamuth upon which his inner life trilled ranged from the translucent surface to beyond the deepest crevices of any sea. His music pitched above the hearing of hounds and below the trembling of trees.“

– S. 101

Wie jedes Königreich hat auch Elmet einen König. Der heißt Mr Price und fährt je nach Wetterlage im Jaguar oder Range Rove vor. Mr Price gehört quasi alles im Dorf und drumherum, er kassiert jede Miete und jede Pacht. Als die Gegend nach dem Einbruch der Bergbauindustrie in eine massive Schieflage geraten ist, hat er sich die plötzliche Armut der Menschen zunutze gemacht und für Spottpreise aufgekauft, was andere nicht mehr finanzieren konnten. Auf seinen Äckern schuften für einen Hungerlohn jetzt die, die überhaupt nirgends mehr unterkommen und wissen, sie haben keine Wahl.

Nachdem Mr Price sich wegen seines Grundstücks, auf dem das Haus des Riesen John steht, mit ihm angelegt hat, findet John, man habe durchaus eine Wahl, man müsse sich eben nur organisieren gegen die Übermacht des zynischen Königs. Zusammen mit einem alten Freund, der früher schon in der Streikbewegung der Minenarbeiter aktiv war, versammelt er die Landarbeiter und die Mieter von Mr Price maroden Häusern und schwört sie ein: Der König muss gestürzt werden! Damit verstößt John gegen seine eigene goldene Regel: Gehe nie in einen Kampf, dessen Regeln du nicht verstehst.

Fiona Mozley erzählt mit einer umwerfenden Poesie und lebendigen Bildern von dieser sehr speziellen Familie. Sie wählt dazu die Perspektive von Daniel, der gerade noch 14 ist und, als der Roman beginnt, auf der Flucht. Alleine irrt er über eine Straße und fragt sich, welchen Weg seine Schwester genommen hat, wenn sie überhaupt noch einen Weg nehmen konnte. Irgendwas ist furchtbar schiefgegangen, das ist schnell klar, das gesamte Ausmaß wird aber erst im Laufe des Romans deutlich. Elmet ist geprägt von großer Grausamkeit und Brutalität, die sich nie ganz aus der Atmosphäre zurückziehen will, so friedvoll und schön einzelne Momente auch sein mögen, das baldige Verderben hängt durch die Rahmenerzählung von Daniels Flucht immer in der Luft.

Das die Kinder rauchen und trinken und nicht in die Schule gehen hinterfragt niemand. Vielleicht, weil man in dieser Gegend spätestens seit dem Verrat an den Minenarbeitern ungern mit Autoritäten zusammenarbeitet, vielleicht weil Elmet doch das Märchen eines Riesen im Wald ist. So oder so ist es ein wirklich großes, beeindruckendes und packendes Lesevergnügen, das einen zumindest ein bisschen auch mit blutiger, dreckiger poetischer Gerechtigkeit belohnt.


Fiona Mozley: Elmet.
John Murray 2018, 311 Seiten.

978-1-47367-649-7

Eine deutsche Übersetzung durch Thomas Gunkel ist ebenfalls unter dem Titel Elmet erschienen.


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