Tal in Österreich ist ein kleiner Ort, der Touristen mit Ski-Abfahrten und dem traditionellen Almabtrieb lockt, seinen Einwohnern, und besonders den jüngeren, aber wenig zu bieten hat. Hier wächst Julia auf und erzählt mit dem Sound von 2001 von der Perspektivlosigkeit eines Lebens in der Provinz.

Über Tal in Österreich ist mit dem Namen schon alles gesagt, findet zumindest Julia, die in dem beschaulichen Ort aufwächst. Nach Tal zieht es vor allem die Touristen, die allen auf die Nerven gehen, mit denen sich aber wenigsten Geld machen lässt. Damit sieht es sonst eher schlecht aus in Tal, erst recht, seit die Schließung der örtlichen Milchfabrik beschlossen wurde. Schuld daran ist die EU, so zumindest die Meinung vieler Taler, die sich über das Erstarken der FPÖ freuen und Haider feiern.

Julia weiß nicht wohin mit sich. 2001 ist sie in der letzten Klasse der Hauptschule, wie es danach weitergehen soll – keine Ahnung. Mit ihren Noten wird sie auch nicht viel Auswahl haben, selbst in ihrer besonders schlechten Klasse, von einigen Lehrkräften respektlos als „Restmüll“ bezeichnet, ist sie unter den schlechtesten. Wenn sie keine Lust auf den Unterricht hat, geht sie eben nicht hin, in Mathe war sie seit Wochen nicht. Viel lieber verbringt sie Zeit mit ihrer „Crew“, trinkt mit ihnen Bier am Wasserfall oder dreht aus gesammelten Pflanzenteilen Joints mit fragwürdiger Wirkung. Und natürlich hören sie Musik. Hip-Hop ist die große Leidenschaft von Julia und ihrem Freundeskreis und das einzige, was Julia sich als Beruf vorstellen kann. Sie will Rapperin werden! Dazu braucht man auch keinen Schulabschluss.

Als Julia erfährt, dass ihre Lieblingsband Texta nach Tal kommt, ist sie begeistert. Endlich ist mal was los in Tal und sie bekommt die perfekte Gelegenheit, ihren Idolen zu zeigen was sie selber kann und sie mit ihrem Demotape zu beeindrucken. Das Demotape gibt es noch nicht, aber das kriegt sie schon hin. Immerhin hat sie Talent!

„Einen Ort zum Existieren zu finden, ist als Jugendlicher nicht einfach. Einen zu finden, an dem man ungehindert saufen kann, noch schwieriger.“

– S. 127

Angela Lehner lässt ihre Protagonistin ein Jahr erleben, in dem sich vieles für sie und die Welt ändert. In Tal vollzieht es sich im kleinen – im Geschichtsunterricht plant ein ehrgeiziger Lehrer ein Experiment, das ein bisschen Die Welle erinnert: Alle in der Klasse ziehen zufällig eine Person oder Organisation, deren Position sie den Rest des Schuljahres vertreten sollen. Viele sind davon überfordert, erst recht Julia, die die UNO gezogen hat, nicht versteht, was ihre Rolle ist und vor allem gar nichts macht außer darauf zu warten, dass die Konflikte um sie herum sich von alleine lösen. Hauptsache, sie muss kein Referat halten. Andere legen sich voll ins Zeug, gehen in ihren Rollen auf und nehmen sie teilweise mit nach draußen. Der Rechtsdrift dieser Jahre spielt sich nicht nur in der großen Politik ab, sondern wird zusehends auch in Tal sichtbar, das nach außen doch so idyllisch wirkt mit der Maibaumfeier und dem Almauftrieb.

Wie ernst Julias Lebensumstände wirklich sind, erfährt man erst sehr spät und nicht von ihr. Irgendwann wundert man sich als Leserin vielleicht mal, dass nur ein Bruder und niemals Eltern erwähnt werden, trotz desaströser Leistungen in der Schule und auch nicht, als ihr Bruder längere Zeit ins Krankenhaus muss. Dass Julia fast alles stiehlt, was sie besitzt, verkauft sie als Spaß und nicht als Notwendigkeit, außerdem gehört es innerhalb der Crew fast schon zum guten Ton, in den Läden der Innenstadt „shoppen“ zu gehen. Ihre Sorgen und Zukunftsängste, ihre Wut und Verzweiflung versteckt sie meisterhaft hinter einer Fassade aus Gleichgültigkeit.

2001 transportiert den Sound des Jahres, nach dem es benannt ist. Dem Text schließt sich eine fast zweiseitige Playlist an, auf der von Aaliyah über Lady Marmalade bis Seeed nahezu alles vertreten ist, wozu man 2001 bereit war, zu tanzen. Zumindest, wenn man irgendwo zwischen 14 und 17 war und Dorfdisco das aufregendste war, was an einem durchschnittlichen Wochenende passieren konnte. Lehner erzählt von einer perspektivarmen Jugend mit Biss, rauem Charme und rotzigem Witz. Allerdings transportiert der sich wohl am besten, wenn man 2001 ungefähr so alt war wie Julia, wenn man die meisten anzitierten Songtexte noch immer auswendig kann, weiß, warum man nicht Samy Deluxe und DJ Tomekk mögen kann, und sich an den 11. September 2001 auch als Tag erinnert, an dem in der Schule hätte sein sollen, es aber nicht war.

Was aber auch ohne das transportiert wird ist die gesellschaftliche Entwicklung, die einerseits Fortschritt verspricht – selbst die Crew sieht irgendwann ein, dass man nicht immer jeden als Mongo betiteln sollte – andererseits aber auch einen soliden Rechtsdrift hinlegt. Auch die Perspektivlosigkeit des ländlichen Raums, das Gefühl des Abgehängtseins wird thematisiert, die Überforderung mit der Lage der Welt und die Tatsache, dass die Chancen in den Städten sind. Angela Lehner erzählt von Politik, Sonnenfinsternis und Euro-Einführung, von Zukunfts- und Versagensängsten, vor allem aber von Freundschaften, die alles ertragen.

Und das, obwohl Füchse gar keine Rudeltiere sind.


Angela Lehner: 2001
Hanser Berlin 2021, 383 Seiten.

978-3-446-27106-7


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