In schlechter Gesellschaft – „The Outcast“ von Sadie Jones

Die Welt meint es nicht gut mit Lewis Aldridge. Nachdem ihn ein tragischer Vorfall in seiner Kindheit völlig aus der Bahn wirft, tut sein Umfeld, absichtlich oder nicht, beinahe alles dafür, dass er nicht wieder auf die Beine kommt.

Lewis Aldridge kommt aus der Haft frei, damit beginnt die Erzählung. Die Geschichte aber beginnt damit, dass Lewis Vater Gilbert aus dem Krieg heimkehrt. In einem gesichtslosen Café in London sitzt Lewis plötzlich einem fremden Mann gegenüber, der fortan Teil seiner Familie sein soll. Die Aldridges leben in einem idyllisch wirkenden Ort in Surrey, von wo aus man nach London pendeln kann. Gilbert findet schnell wieder Arbeit in der Stadt, Lewis versucht erfolglos, die umschwärmte Tamsin auf sich aufmerksam zu machen und seine verzweifelt gelangweilte Mutter Elizabeth mixt den Feierabend-Cocktail jeden Tag ein bisschen stärker und früher.

Als Gilbert einmal wieder den ganzen Tag in London ist und Elizabeth mit Lewis einen Ausflug zum nahegelegenen Fluss unternimmt, kommt es zu einer Katastrophe, die Lewis ganzes Leben ruinieren wird. Seine Mutter stirbt an diesem Tag und er bleibt zurück mit seinem emotional distanzierten Vater, zu dem er keine Beziehung aufbauen kann und der zu allem Überfluss nach nur wenigen Monaten wieder heiratet, noch dazu eine junge Frau, die selbst mehr Bestätigung braucht als sie Lewis geben kann. Mit der Trauer um seine Mutter, mit dem Trauma ihres Todes bleibt er allein.

Nach dem ersten tiefen Fall im Alter von zehn Jahren lässt Sadie Jones ihren Protagonisten nicht mehr aufstehen. Wenn man zwischendrin mal glaubt, er habe sich nun aber wirklich mal gefangen, irgendwo Halt gefunden, kommt direkt der nächste Schlag ins Gesicht. Lewis wächst auf in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Ressourcen knapp und Schwäche nicht erwünscht waren, was umso mehr gilt in dem kleinen Ort, in dem er aufwächst, und in dem man ganz genau guckt, was die Nachbarn machen. Nachdem Richard Carmichael, Patriarch der tonangebenden Familie, erstmal beschlossen hat, dass aus dem jungen Aldridge nichts wird, ist es sowieso vorbei. Die offene Ablehnung des ganzen Ortes schlägt nicht nur ihm, sondern auch seine Eltern entgegen. Eine Verbündete findet er nur in Kit, der Tochter der Carmichaels, die ebenso Sündenbock ihrer Familie ist und die ungezügelten Aggressionen ihres Vaters abbekommt. Die Abgründe der Menschlichkeit, die in diesem Roman dargestellt werden, muss man aushalten können und wollen. Alkoholismus, häusliche Gewalt, Selbstverletzung, emotionale Vernachlässigung, psychische Gewalt, sexualisierte Gewalt – Lewis muss durch alles durch und das ohne Atempause. Seine Zeit im Gefängnis empfindet er als erträglicher als das Leben zu Hause und am Ende erscheint selbst der Militärdienst als wunderbarer Ausweg aus seiner Misere.

„He hated himself, but he was used to that, and anyway there was nothing he could do about it now.“

– S. 105

Dabei ist ihm sogar noch ein kurzer Auftritt als Held vergönnt. In einem letzten mutigen Akt wirft Lewis sein Leben, das ihm ohnehin nicht mehr viel wert ist, in die Waagschale, um poetische Gerechtigkeit zu schaffen. Zerschunden und halbtot, aber immerhin aufrecht, geht er aus der Geschichte. Lewis Aldridge muss alles ertragen, um zu vermitteln: Schaut hin, schaut auf die Unbequemen, die Lauten, die Gewalttätigen und fragt, warum sie sind, wie sind. Stempelt sie nicht ab, schließt sie nicht aus, gebt sie nicht auf. Reicht ihnen die Hand! Für den Fall, dass das auf den ersten 350 Seiten nicht klar geworden ist, fasst Jones es am Ende nochmal für alle in einer emotionalen Abschiedsszene zusammen. Allerdings erreicht Jones wirklich, dass man seine eigene Perspektive manchmal wieder einfangen muss und den jungen Lewis nicht selbst aufgibt und schulterzuckend hinnimmt, dass er einfach am Boden ist und bleibt.

Am Anfang mochte ich The Outcast noch wirklich gern, weil der Schreibstil und die Charakterisierungen zu Beginn sehr überzeugen. Diese erreichen ihren Höhepunkt aber recht bald und ab da gibt es viel schwarz und weiß in dem Roman. Komplexe Charaktere sind selten, erst recht unter den Frauen, die entweder als femme fatale oder als hilflose Opfer auftreten. Die Männer hingegen sind grob, emotional abgestumpft und oft gewalttätig. Ihre Komplexität wird der Botschaft des Romans geopfert: Die Nachkriegsgesellschaft war ein einziges Höllenloch, und hat ihre Kinder im Namen irgendwelcher überkommener „Werte“ ruiniert. Damit hat die Autorin ja auch in vielen Punkten recht, eine etwas subtilere Darstellung hätte dem Roman aber zumindest nicht geschadet.

The Outcast zeigt eine Gesellschaft, die nach außen hin eine heile und idyllische Welt ist, sich beim Blick hinter die Kulissen aber als gnadenlos brutal entpuppt. Das ist ein sehr gelungenes Setting, der Geschichte und ihren Figuren hätte etwas weniger Tempo, etwas mehr Luft für die Charakterbildung allerdings nicht geschadet.


Sadie Jones: The Outcast.
Vintage 2008, 443 Seiten.

978-0-099-51342-1

Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Der Außenseiter erschienen, zudem wurde der Roman von der BBC als Mini-Serie verfilmt.


Mit The Outcast war Sadie Jones 2008 auf der Shortlist des Orange Prize. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.


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