Kühe und Klimakatastrophe – „Salt Lick“ von Lulu Allison

Es ist ein düsteres England, in dem Lulu Allison ihren Roman Salt Lick ansiedelt. Jesse, dessen Familie als eine der letzten noch zögert, in die Stadt zu gehen, und Isolde, die nie ein anderes Leben als das in London kannte, sind die ungleichen Hauptfiguren dieser Klima-Dystopie. Doch ihre Geschichten sind auf tragische Weise eng miteinander verbunden.

Das Meer nagt unaufhaltsam an den Küsten Großbritanniens, die Autobahnen werden langsam überwuchert und auf dem Land hält es nur noch wenige Idealisten, die gegen die Übermacht des Unkrauts und des immer größer werdenden Mangels ankämpfen. Wilde Kuhherden durchstreifen Wälder, Wiesen und leere Dörfer, in denen kaum jemand die letzte Epidemie überlebt hat. Die meisten Landbewohner geben irgendwann auf und ziehen nach London, wo es zumindest noch ein Mindestmaß an Infrastruktur, Arbeit und Versorgung gibt. Eine hochtechnisierte Zukunft, wie es sie in vielen anderen Romanen gibt, ist hier nie eingetreten.

Jesse wächst noch in einem der Dörfer auf, erkundet verlassene Häuser und tobt in verwilderten Gärten. Doch irgendwann halten die Eltern das immer schwerer werdende Leben in der verfallenden Umgebung nicht mehr aus, vernageln die Fenster, lassen das Auto zurück und ziehen nach London. Obwohl er seinen geliebten Hund Mister Maliks mitnehmen darf, gelingt es Jesse nie, in den Häuserschluchten der Großstadt Fuß zu fassen.

Parallel zu seiner Geschichte wird die von Isolde erzählt, die gar kein anderes Leben als das in London kennt. Hier ist sie aufgewachsen, nach dem frühen und gewalttätigen Tod ihrer Mutter in einem Kinderheim. Ausgerechnet von dem Mann, der ihre Mutter auf dem Gewissen haben soll, erhält sie eines Tages den Hinweis auf einen abgelegenen Hof, auf dem sie mehr über ihre Herkunft erfahren kann. Kurzentschlossen packt sie ihre Sachen und macht sich auf den Weg – zu Fuß, versteht sich. Inzwischen ist die infrastrukturelle Anbindung an den ländlichen Raum vollständig zusammengebrochen und selbst mit teuren Fahrdiensten kann man die Straßen kaum noch passieren. Sie durchquert Landstriche, die inzwischen völlige Wildnis geworden sind, hütet sich vor marodierenden Nationalisten und findet am Ende mehr Antworten, als sie zu finden gehofft hatte.

Lulu Allison erzählt von einem England, das auf gruselige Art so real wie dystopisch ist. Mit den immer mehr sichtbar werdenden Folgen des Klimawandels und in der Folge schwerer Epidemien hat die britische Gesellschaft sich grundlegend verändert. Nur noch das nötigste wird aufrechterhalten und das ist vor allen Dingen London. Außerhalb der Stadtgrenzen herrscht eine Art Wilder Westen, durchsetzt von den Lagern derer, die in der Stadt keinen Halt finden und von den Siedlungen weniger Idealisten, die ihren Lebensinhalt darin finden, sich auf Ackerbau und Tauschhandel zu besinnen. Im Norden herrschen die Weißen Dörfer vor, in denen Hardcore-Nationalisten brutal gegen alles vorgehen, was nicht ihrem ultra-konservativen Weltbild entspricht. Zwischen all dem pendeln die fliegenden Händler, die einzige Quelle für Eisenwaren, Papier und Neuigkeiten.  

„So life rolls on, a boy makes friends, walks with his dog, moves through life learning how to be, how to avoid, how to learn.“

– S. 152

Allison findet einen sehr stimmigen Weg, die eng verbundenen Geschichten von Jesse und Isolde einander anzunähern. Während die eine eine ausgesprochen tragische Wendung nimmt, endet die andere fast glücklicher, als sie es stabil tragen kann. Die Figuren sind ausgesprochen verletzliche Charaktere, die aber nachvollziehbar und glaubwürdig charakterisiert sind. Und wären sie nicht alle so verletzlich, wären sie wahrscheinlich auch nicht da, wo sie sind. Allison gelingt es, eine düstere und zugleich hoffnungsvolle Atmosphäre aufzubauen. Sie erzählt sensibel und feinfühlig, dabei aber sehr klar und mit starken Beschreibungen. Unterbrochen wird die Erzählung regelmäßig durch einen Chor, der zusammenfast, vorausdeutet und einordnet. Dieser Chor ist, und ich weiß noch nicht so richtig, wie ich das finde, die gemeinsame Stimme der wandernden Kühe.  

Irgendwie geht es weiter in den Ruinen der heutigen Gesellschaft, wenn auch nur im Kleinen. Die Sympathien der Geschichte sind klar bei denen, die widerstehen, ihre individuellen Rechte einfordern und Grenzen übertreten, wo es anderen nicht schadet. Der Staatsapparat wiederum bleibt so anonym wie er nur sein kann. Die Welt ist nun eben, wie sie ist, wer darüber entschieden hat, ist ja am Ende egal. Wer nicht in diese Ordnung passt, entzieht sich ihr freiwillig oder wird von ihr ausgestoßen. Der Fokus auf die wenigen Widerständigen ist zugleich Konzept und Schwäche des Romans, dem manchmal ein etwas weiterer Blick gut getan hätte und geholfen hätte, die Handlung einzuordnen. Über das Leben in London erfährt man wenig, obwohl es ein so wichtiger Teil von Isoldes Leben ist und immerhin die ersten Jahrzehnte ihres Lebens prägt. Der abgeschiedene Lebensstil auf dem Land kann keine gesamtgesellschaftliche Alternative darstellen, es bleibt aber auch unklar, ob es die braucht, oder ob ein Großteil der Gesellschaft tatsächlich zufrieden damit ist, importierte Lebensmittelboxen zu abonnieren und nicht zu wissen, wie man Schnüre aus Brennnesseln macht.     

Salt Lick ist dennoch ein sehr lesenswerter und überzeugender Roman, der leider trotz Womens Prize-Nominierung auch international eher unter dem Radar zu fliegen scheint. Dabei hat er eine packende Atmosphäre und erzählt eine gut komponierte Geschichte über lebenswerte Alternativen in menschenfeindlichen Zeiten, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.


Lulu Allison: Salt Lick.
Unbound 2021, 374 Seiten.

978-1-78965-131-7


6 Antworten zu „Kühe und Klimakatastrophe – „Salt Lick“ von Lulu Allison”.

  1. Avatar von soerenheim

    Das klingt interessant. Ich versuche schon länger, unsere jährliche Lesereihe in der Stadt davon zu überzeugen, einen Klimawandelroman zu lesen. Aber er darf halt nicht zu lang und wahrscheinlich auch nicht zu genrelastig sein.

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    1. Avatar von schiefgelesen

      Da wäre das wahrscheinlich wirklich ein guter Mittelweg, leider ist es aber nie übersetzt worden.

      Vielleicht kriegst du sie mit dem „Wald“ von Catton? Ist auch eine schöne Tech-Milliardär-Kritik drin.

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      1. Avatar von soerenheim

        Mist … Auf Englisch wird hier leider nicht gelesen… „Wald“ kannte ich nicht. Der Klappentext klingt interessant, aber ich fürchte, 500 Seiten sind schon wieder viel zu dick. Meist haben die Bücher so 200 bis 300.

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        1. Avatar von schiefgelesen

          Ihr seid aber auch anspruchsvoll 🙂

          Wenn mir nochmal was passendes über den Weg läuft, lasse ich es dich wissen.

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          1. Avatar von soerenheim

            Es darf halt, fürchte ich, nicht zu „schwierig“ sein, man möchte dass viele Leute mitmachen.

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            1. Avatar von schiefgelesen

              Das ist bei solchen Projekten ja auch sehr verständlich und wünschenswert.

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