In seinem Podcast und dem daraus entstandenen Buch fühlt der Historiker Alberto Grandi der al dente-Pasta auf den Zahn. Denn was man gemeinhin für uralte Traditionen und jahrhundertalte Handwerkskunst hält, ist oft genug erfunden, geschönt und neu etabliert. Schonungslos und voller Humor wirft der Autor einen kritischen und lehrreichen Blick auf die Küche zwischen Alpen und Sizilien.

Die italienische Küche, das ist allgemein bekannt, ist reich an uralten Traditionen und beeindruckender gastronomischer Handwerkskunst. Wer einmal in Italien war, einmal Spaghetti Carbonara auf der Plaza gegessen hat, der rümpft fortan die Nase, wenn ein deutsches Restaurant Sahne an diesen Schatz der italienischen Küche kippt. Wer einmal echten Parma probiert hat, lässt deutschen Katenschinken ab sofort links liegen, wer Pasta aus dem Parmesanlaib kennt, rastet aus, wenn er beliebigen geriebenen Hartkäse serviert bekommt. Nach anfänglicher Skepsis hat die italienische Küche die Herzen der Deutschen und vieler anderer Nationen im Sturm erobert und gilt heute als hohe Kochkunst. Echte italienische Küche ist eben etwas ganz besonderes – oder hat man uns das nur besonders gut verkauft?
Dieser Frage geht der Historiker Alberto Grandi in diesem Buch mit dem Untertitel „Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche“ nach, mit dem er sich in Italien wirklich keine Freunde gemacht hat. Denn die kulinarischen Traditionen sind auch und ganz besonders in Italien sakrosankt.
„Ich möchte eine entzaubernde, teilweise entweihende, aber nichtsdestoweniger notwendige Sichtweise einführen.“
– S. 22 – 23
Die italienische Ausgabe des Buchs ging hervor aus dem Podcast des Autors, Denominazione di origine inventata, auf Deutsch in etwa „erfundene Herkunftsbezeichnung“, in dem er vermeintliche Traditionen der italienischen Küche auseinandernimmt. Besonders eingeschossen hat er sich auf den Wust aus Herkunftsbezeichnungen, die im Zuge der Regionalförderung aus dem Boden schießen wie Pilze, und die zum Teil wirklich absurde Blüten tragen. Denn zu jeder guten Herkunftsbezeichnung gehört natürlich auch eine Legende, die begründet, warum in genau diesem Dorf seit mindestens der Römerzeit ein Schinken produziert wird, wie man ihn sonst nirgends auf der Welt bekommt. Dabei garantieren DOP, IGP, STG und was es alles gibt natürlich nicht zwingend eine überlegene Qualität – dass ein Produkt dem anderen im internationalen Markt überlegen ist, ist oft genug eher das Ergebnis eines besonders guten Marketings als einer besonders guten Qualität.
Grandi schreibt humorvoll und mit viel Augenzwinkern über Italien und seine angeblich so tief verwurzelten Küchentraditionen. Wütend wird er da, wo die Jahrhunderte währende Armut der Landbevölkerung romantisiert oder negiert wird. Das Volk, das heute für Pizza und Pasta bekannt ist, hatte lange Jahre unter enormer Nahrungsmittelknappheit zu leiden. Die Menschen, die Italien zu Millionen verließen und ihr Glück jenseits des Atlantiks suchten, konnten von Parmaschinken und Aceto Balsamico nicht einmal träumen. Wer sowas regelmäßig auf dem Teller hatte, hatte keinen Grund, ein Schiff in Richtung Amerika zu besteigen. Immense Teile der Bevölkerung aber litten an Mangelernährung und Folgeerkrankungen wie Pellagra, als sie ein Elend gegen das andere tauschten und ihr Glück woanders suchten.
Mythos Nationalgericht ist nicht nur eine kluge Abrechnung mit den heutigen Verhältnissen, sondern spannt auch einen Bogen über die italienische Geschichte, beginnend mit dem Mittelalter hin zu dem noch recht jungen Konstrukt, das wir heute als Italien kennen. Von einer gemeinsamen Küche konnte man dort lange Zeit beim besten Willen nicht sprechen. Das, was heute als italienische Kochkunst bekannt ist, ist noch nicht einmal hundert Jahre alt und entstand, so der Autor, erst als in den 1950er Jahren die Großindustrie zu schwächeln begann und man ein neues wirtschaftliches Betätigungsfeld ausfindig machen musste. Den Stiefel rauf und runter begann man, sich auf seine Spezialitäten zu besinnen und auf die dazugehörigen Traditionen, die man nun mühsam und in großzügigen Interpretationen aus Archiven und alten Aufzeichnungen zusammenklaubte, bis wirklich jedes Dorf die Besonderheit und Vollkommenheit seiner einzigartigen Focaccia begründen konnte.
Also alles Schmu? Natürlich nicht. In Italien gibt es sehr gutes Essen und sehr gute, qualitativ hochwertige Lebensmittel, sei es Olivenöl, Schinken oder Pasta, daran zweifelt Grandi nie. Was ihn spürbar ärgert ist die krampfhafte Etablierung von kleinteiligen Herkunftsbezeichnungen und die erfundene Tradition, die Verfälschung der Geschichte, vor allen Dingen da, wo Armut und Ungleichheit instrumentalisiert und romantisiert werden. Ich musste beim Lesen oft an ein „Landfrauenkochbuch“ denken, das ich vor einiger Zeit in der Hand hatte und in dem ich, weil ja „Land“ im Titel ist, den Apfelkuchen von Großmutter Hiltraud und den Erbseneintopf nach uraltem Familienrezept erwartete, serviert in der gemütlichen Wohnküche. Aber auch vor dem Land und seinen Frauen macht die Zeit nicht Halt und so fand ich Rezepte für Puten-Curry und Fanta-Kuchen. Auch in Deutschland passen also Lebensrealität und (in dem Fall von mir) imaginierte Tradition nicht immer besonders gut zueinander. Wer also gerne Sahne in die Carbonara kippt, tritt keine seit der Antike existierende Tradition mit Füßen, sondern ändert nur ein Rezept ab, das es vor dem Zweiten Weltkrieg noch gar nicht gab und da müssen wir ja nicht tun, als hätte das noch niemand von uns jemals gemacht. Buon appetito!


