Anne Enright: The Forgotten Waltz

Es ist auf einer Party im Garten ihrer Schwester, als Gina Seán das erste mal sieht. Sie unterhalten sich nicht, sie werden einander nicht einmal vorgestellt, und doch sieht Gina den Anfang ihrer Affäre in diesem Augenblick. Als sie sich Monate später auf einer Konferenz in der Schweiz wiedersehen, kennt Seán sie nur als „Fionas Schwester“. An diesem Wochenende beginnt ihre Affäre wirklich. Gina kann es sich nicht erklären, sie ist glücklich verheiratet und hat mit ihrem Mann erst vor kurzem ein Haus gekauft. Mehrfach versucht sie, das Verhältnis zu beenden, es gibt klärende Gespräche und große Abschiedsszenen, aber am Ende treffen die beiden sich doch wieder in irgendeinem Hotel. Auch als Gina ernste Zweifel kommen, ob sie die ganze Geschichte vielleicht ernster nimmt, als Seán sie meint, schafft sie es nicht, einen Schlussstrich zu ziehen.

„He loves me now. Or he loves me too.
Or.
I love him. And that is as much as any of us can know.“

Sie sehnt seine Anrufe herbei und verbringt fast eine ganze Nacht im Auto vor seinem Haus, um ihm so nah wie möglich zu sein, um dabei zu sein, wenn er das Licht löscht. Heimlich hofft Gina, dass Seán seine Frau für sie verlassen wird und redet sich ein, dass es nicht ihre Schuld sei. Seán hatte vor ihr schon so viele Affären, es wäre reiner Zufall, wenn sie nun die wäre, die seine Ehe zerstört. Aber eine muss es ja machen. Wenn da nicht das Kind wäre. Evie ist neun, als die Affäre beginnt, ein behütetes Kind, um das die Eltern sich oft und große Sorgen machen. Das Mädchen habe „Anfälle“, mehr kann Gina erstmal nicht in Erfahrung bringen.

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Sheri Holman: The Mammoth Cheese

Margaret Prickett, Farmerin in Virginia, steht vor den Trümmern ihrer Existenz. Seit Generationen hat ihre Familie eine Farm im kleinen Ort Three Chimneys, wo sie Jersey Kühe halten und ihren eigenen Käse herstellen. Der Tod ihres Vaters lässt sie mit einem Schuldenberg zurück und die Bank setzt die letzte Frist zur Begleichung ihres Kredits. Rettung sieht sie in Adam Brooke, der für das Amt des Präsidenten kandidiert und im Falle seines Sieges einen Schuldenschnitt für kleine Farmen verspricht. Seinem Wahlkampf widmet Margaret alle Zeit, die sie nicht in Kuhstall oder Käsekeller verbringt. Dabei verliert sie ihre Tochter Polly aus den Augen, die mit ihren 13 Jahren das erste mal verliebt ist, leider recht unglücklich in ihren Geschichtslehrer Mr. March. Und auch für August, der ihr auf der Farm hilft und seit Jahrzehnten in sie verliebt ist, hat sie keine Augen. Von Augusts Vater allerdings, Pfarrer Leland, kommt die Idee, einen gigantischen Käse zu produzieren, einen Mammut-Käse, der Adam Brooke als Geschenk präsentiert werden soll, als Dank der kleinen Farmer, für deren Rechte er sich einsetzt. 1.235 Pfund soll er wiegen, ganz wie sein Vorbild, der „Cheshire Mammoth Cheese“, der 1802 Thomas Jefferson zum (historisch verbrieften) Geschenk gemacht wurde.

„This homespun, heartfelt, mammoth gesture appealed to the populist spirit of most Americans.“

Der Riesenkäse ist aber nicht die einzige Sensation, die das sonst so triste Three Chimneys gerade aufweisen kann. Eine Frau aus dem Ort hat nach einer Fruchtbarkeitsbehandlung elf Kinder auf die Welt gebracht – ein neuer Weltrekord und Grund für Kamerateams aus aller Welt, den Rasen vor dem Krankenhaus zu zertrampeln. Der ganze Ort ist voll gerührter Hilfsbereitschaft. Doch die Sensation wird schnell zum Drama, als nicht alle Kinder überleben. Von der ursprünglichen Hilfsbereitschaft bleiben nur noch aussortierte Sachspenden und Mutter Manda verzweifelt an ihrer neuen Mammut-Aufgabe.

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Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm

In einer Berliner Zeitung erscheint 1929 ein Artikel über Käsebier, einen mittelprächtigen Varieté-Sänger in der Hasenheide. Der Text ist die reine Verlegenheitslösung, es ist sonst gerade nichts zur Hand und leer lassen kann man die Seite ja schlecht. Die Hasenheide wird zum neuen Montmartre erklärt, der Sänger in den höchsten Tönen gelobt, und schon springt der nächste Journalist drauf an, schließlich will man nicht hinterherhinken, wenn es einen neuen Star zu entdecken gilt. Von heute auf morgen sind die Vorstellungen restlos ausverkauft und Berlins bessere Gesellschaft strömt in Scharen heran um Schlager zu hören wie „Wer mit mir will, der komme mit, wer mich nicht will, der jeht alleene“. Bald schon tritt Käsebier im schicken Wintergarten an der Friedrichstraße auf. Es erscheinen Bücher, Käsebier spricht im Radio, zu Weihnachten gibt es Käsebier-Puppen für die Kleinen und für die Großen Käsebier-Zigaretten und -Schuhe. Ein eigenes Theater soll für ihn gebaut werden, ein Prachtbau am Kurfürstendamm mit Geschäften und Wohnungen darin.

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Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draußen bleiben

Mit der Aussage, dass Hartz IV nicht Armut bedeute, hat Jens Spahn sich vor einigen Wochen in die Herzen der Republik katapultiert und eine Diskussion darüber ausgelöst, was Armut in Deutschland eigentlich bedeutet. Dieser Frage widmet sich Kathrin Hartmann auch in ihrem Buch mit dem Untertitel „die neue Armut in der Konsumgesellschaft“. Armut in Deutschland ist im internationalen Vergleich noch relativ harmlos. Auch wer nur sehr wenig Geld hat, hat Zugang zu einer medizinischen Versorgung und Bildungseinrichtungen, die vergleichsweise gut aufgestellt sind. Und unter der absoluten Armutsgrenze von derzeit 1,25 $ liegt in Deutschland wohl kaum jemand, selbst dann nicht, wenn man Geld nur erbetteln kann.

Armut ist allerdings bei sehr vielen Menschen auch mit großer Scham verbunden. Es ist peinlich, sich bei der Tafel anstellen zu müssen, weil das Geld für Lebensmitteleinkäufe mal wieder nicht reicht. Kein Geld zu haben für neue Kleidung, einen Kinobesuch oder um mit Freunden essen zu gehen, bedeutet von vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen zu sein. Nichts davon braucht man zum Überleben, aber man braucht es eben als Teil eines „normalen Lebens“, als Teil einer gesellschaftlichen Teilhabe. Zudem kritisiert Hartmann Projekte, bei denen es nur vordergründig um eine Annäherung zwischen Armen und Wohlhabenden geht, wie das ihrer Erfahrung nach beispielsweise bei der Tafel ist. Hier finden die gesellschaftlichen Schichten nicht zueinander, es ist ein Austeilen von Almosen durch Reiche an Arme, von denen erwartet wird, dass sie dankbar annehmen, was ihnen angeboten wird.

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Margaret Atwood: Payback

Seitdem ich vor ungefähr zwei Jahren Thomas Piketty gelesen habe, bilde ich mir ein, etwas von Wirtschaft zu verstehen. Das ist so nicht richtig. Ich verstehe nicht mehr nichts von Wirtschaft, aber nun ja… Ich dachte, wie so oft könnte Atwood helfen und habe mir Payback gekauft, in dem es, wie der Untertitel verspricht, um „Schulden und die Schattenseiten des Wohlstands“ gehen soll. Geht es auch, aber Wirtschaft kommt halt quasi nicht vor. Viel mehr betrachtet Atwood das ganze Dilemma aus einer kulturhistorischen Perspektive, was es nicht weniger interessant macht. Wie man es erwartet, ist ihr Text natürlich sowohl sehr fundiert und informativ, aber auch sehr unterhaltsam.

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Sie beginnt ganz vorne. Aufzeichnungen über Schulden sind so alt wie die Schrift, Schulden offenbar noch viel älter. Es scheint keine Gesellschaft gegeben zu haben, in der niemals jemand Schulden gemacht hat, der Umgang damit war und ist aber sehr unterschiedlich. Vor allem in der Frage, was eigentlich passiert, wenn man seine Schulden wirklich nicht mehr in Geld zurückzahlen kann. Kann man sich selbst als Lohnsklave anbieten? Seine Frau, seine Kinder? Kann man, etwa wenn man bei einem Gott in der Schuld steht, etwas anderes opfern, einen Stier oder einen Menschen? Konnte man und kann man. Nicht immer kann man Schulden mit materiellen Mitteln ausgleichen. Atwood führt den „Paten“ als Beispiel an – ein Gefallen kann nur mit einem Gefallen ausgeglichen werden, so unschön das auch werden mag.

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Evan Osnos: Große Ambitionen. Chinas grenzenloser Traum

grosse_Ambitionen„Das China in dem ich mittlerweile lebte, konnte zugleich inspirieren und wahnsinnig machen, diese Heimat der mit bloßen Händen erarbeiteten Vermögen und der schwarzen Gefängnisse, der ungebremsten Neugier auf die Welt und des defensiven Stolzes hinsichtlich Chinas neuem Platz in ebendieser.“

China ist in den letzten Jahren zum Symbol für rasanten Aufstieg geworden. Die Wirtschaft des Landes explodiert, eine stetig wachsende Mittelschicht häuft Reichtum an und chinesische Investoren sind aus internationalen Großprojekten fast nicht mehr wegzudenken. Zugleich steht China aber auch für minderwertige Qualität, Fälschungen und im schlimmsten Fall gesundheitsgefährdende Produkte. Skandale wie giftige Babynahrung, Menschenrechtsverletzungen bei der Ausrichtung der Olympiade oder die völlig unzureichende Reaktion auf das Erdbeben in Sichuan gingen um die ganze Welt.

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Jonathan Franzen: The Corrections

thecorrections„Your parents are not supposed to be your best friends. There’s supposed to be some element of rebellion. That’s how you define yourself as a person.“

Ich habe sehr lange überlegt, was ich über The Corrections noch sagen soll. Denn ich habe das Gefühl, dass in den 15 Jahren seit Erscheinen alles schon gesagt wurde und zwar mehrfach.

Aber nochmal ganz knapp für alle, die das Buch noch nicht kennen: Enid Lambert wünscht sich, dass noch ein letztes mal alle ihre Kinder und Enkelkinder nach St. Jude im Mittleren Westen der USA kommen, wo sie mit ihrem an Parkinson erkrankten Mann Alfred lebt. Die Kinder Chip, Denise und Gary leben mittlerweile an der Ostküste, Gary ist verheiratet und hat drei Söhne, die beiden anderen Kinder sind derzeit partner- und kinderlos. Nach diesem letzten Weihnachtsfest, so hat Enid es Gary versprochen, verkaufen sie das verwahrlosende Haus und suchen eine Wohnung, die besser für Alfred geeignet ist. Garys Frau Caroline ist aber unter gar keinen Umständen bereit, mitsamt Kindern nach St. Jude zu reisen, weil sie die ganze Familie Lambert für eine Zumutung hält.

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Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert

kapital„Die Weise auf die man Ungleichheit zu messen sucht, ist niemals neutral.“

Das Kapital im 21. Jahrhundert ist mit über 800 Seiten ein ordentlicher Wälzer. Also wollte ich es mir ein bisschen leichter machen und habe mir das Hörbuch gekauft. Das war ein Fehler. Nicht, weil es schlecht gemacht ist, ganz im Gegenteil sogar, sondern weil ich beim reinen Hören von der Masse an Zahlen, Statistiken, Formeln einfach erschlagen wurde. Ich muss sowas sehen um es zu verstehen und diesen Faktor hatte ich schlicht unterschätzt. Nie zuvor habe ich so lange für ein Hörbuch gebraucht, weil ich mich so auf jeden einzelnen Satz konzentrieren musste.

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