Leben in Licht und Luft – „Monte Verità“ von Stefan Bollmann

Ein Zufall führt die Brüder Gräser, Henri Oedenkoven und Ida Hoffmann 1900 in Veldes, dem heutigen Bled in Slowenien zusammen. In langen und tiefen Gesprächen spüren sie eine tiefe Verbundenheit und eine gemeinsame Abneigung gegen den Zustand der modernen Gesellschaft. Sie wollen weg von Kapitalismus und Industrialisierung, sich frei machen von den Zwängen der Zeit. Zurück zur Natur, das aber keineswegs reaktionär gedacht, sondern ganz fortschrittlich. Und das nicht nur theoretisch, sondern praktisch umgesetzt in einer Lebensgemeinschaft, die ihren Vorstellungen entspricht.

„Sie werden nie mehr eingezwängt zwischen Plüsch und Plunder sein, stattdessen nackt in der verschwenderisch scheinenden Sonne liegen.“

Nur wenige Monate später, aber nach einer beschwerlichen Suche, finden sie den perfekten Ort dafür. Im Tessin, auf einem Hügel über Ascona und mit Traumblick über den Lago Maggiore, finden sie ihren „Wahrheitsberg“, einen wirtschaftlich kaum mehr genutzten und nicht bewohnten Hügel, der alles zu haben scheint, was sie für ihr Unterfangen benötigen. Mit Enthusiasmus starten sie in ihr neues Leben, das zum Modell werden soll für die gesamte Gesellschaft. Licht und Luft braucht der Mensch, so lehrt es damals populäre Arnold Rikli, dem man auf Monte Verità folgt und dessen Lehren als Basis für das neue Sanatorium dienen sollen. Auf dem Hügel ist man meist nackt, badet täglich in Licht und Luft, und nur beim Weg ins Dorf trägt man, um keinen Missfallen zu erregen, luftige, weit geschnittene Gewänder. In Ascona denkt man sich natürlich seinen Teil über die Aussteiger aus dem Berg, die in spärlichen Hütten in wilder Ehe leben, sich als Selbstversorger versuchen und sich vegetarisch oder vegan ernähren.

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Ein Sommer im Tessin, ein Leben fürs Schreiben – „Was wir scheinen“ von Hildegard Keller

In den letzten Monaten ihres Lebens, im Sommer 1975, reiste Hannah Arendt noch einmal ins Tessin. Diesen Sommer verbrachte sie in Tegna, besuchte von dort aus Freunde und selbstverständlich schrieb sie auch. Diese Reise nimmt Hildegard Keller als Ausgangspunkt, um die große politische Theoretikerin auf ihr Leben zurückblicken zu lassen, auf ihre Flucht in die USA, ihr Freundschaften mit den intellektuellen Größen ihrer Zeit und den Eichmann-Prozess, der ihr nicht immer willkommenen Ruhm einbrachte.

Keller wagt sich mit Was wir scheinen an eine der Großen des 20. Jahrhunderts und an eine Frau, die mit ihrem Werk und ihren Aussagen sehr polarisiert hat. Besonders ihr bekanntestes Werk Eichmann in Jerusalem sorgte für lang anhaltende Kontroversen und führt noch immer dazu. Bis heute werden immer wieder kritische Stimmen laut, die sich nicht selten auch am Untertitel Ein Bericht von der Banalität des Bösen stoßen. Von der Kritik blieb auch Arendts Privatleben nicht unberührt, aber auch ihr weiteres Schreiben nahm eine andere Wendung. Einige Freundschaften zerbrachen, oder wurden zumindest arg strapaziert. Zugleich aber bedeutete der Eichmann-Prozess großen Ruhm für die Theoretikerin, die sich einige Zeit vor Interview-Anfragen kaum retten konnte. Aus dieser Zeit stammt auch das berühmte Gespräch mit Günter Gaus, aus dem im Roman großzügig zitiert wird. Aber auch darüber hinaus kann Keller sich in ihrer Charakterisierung Arendts auf einen großen Fundus stützen. 

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