Leben in sechs Welten – „Nachtbeeren“ von Elina Penner

Nelli Neufeld lebt unsichtbar. Sie ist fromme Mennonitin, Ausgewanderte, Eingewanderte, Plautdietsch-Sprecherin, Nesthäkchen, Oma-Kind, Mutter und Ehefrau, unterwegs in sechs Welten, die kaum Berührungspunkte haben. Ihre Lebensrealität nimmt kaum jemand wahr, sie fällt durch alle Raster, ist nicht deutsch und nicht russisch und auch nicht so richtig deutsch-russisch. An ihre ersten Jahre in der UdSSR hat sie kaum eine Erinnerung, erst die Reise nach Deutschland, die Enge in der Notunterkunft und die Schulzeit als Ausländerkind erinnert sie gut. Sie ist aufgewachsen in einer mennonitischen Familie, die unter sich plautdietsch spricht, eine niederdeutsche Sprache, die fast ausschließlich unter Russlandmennoniten gesprochen wird. Ihre Oma heißt Öma, die Urgroßmutter Öle Öma und das Brot, das es zu allen Anlässen gibt, Tweeback. Russisch und Deutsch kann sie – natürlich – auch.

„Ich war nicht deutsch, nicht russisch, also wurde ich religiös. Da wusste ich, woran ich war.“

Die Taufe in der Glaubensgemeinschaft erfolgt nicht gleich nach der Geburt, sondern erst, wenn ein Mensch selber entscheiden will und kann, im Glauben zu leben. Nelli bekennt sie sich erst nach dem Tod der Öma, bei der emotionalen Beerdigung und in der Hoffnung, dass es für Fromme ein Wiedersehen nach dem Tod gibt. Von da an lässt sie sich die Haare lang wachsen, trägt keine Hosen mehr und nur noch Röcke, die auch im Sitzen die Knie bedecken, entsagt dem Alkohol und verbannt den Fernseher. Die Aufgaben in ihrer Ehe mit Kornelius sind klar verteilt: Er arbeitet, sie bleibt zu Hause, ordnet sich unter, kocht und sorgt für makellose Sauberkeit in dem Haus das so groß sein muss, dass es die Entbehrungen der Notunterkunft vergessen lässt. Sohn Jakob lernt in der Jungschar und auf der christlichen Privatschule, dass er die Eltern ehren muss.

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Auf der Suche nach der Schöpfungsformel – „Die Sprache des Lichts“ von Katharina Kramer

„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ So einfach kann Schöpfung sein – wenn man die richtige Sprache spricht. Davon waren die Menschen lange überzeugt. Wenn man Gottes Sprache finden und sprechen könnte, dann könnte man damit alles erschaffen, was man braucht. Licht, Gold, Macht, alles aus Worten geschöpft. Die aufgeregte Suche nach eben dieser Sprache legt Katharina Kramer ihrem Roman zu Grunde, den sie Ende des 16. Jahrhunderts spielen lässt.

Jacob Greve, in Ungnade gefallener Lateinlehrer auf Wanderschaft, trifft darin auf den Gauner Edward Kelley, der in ihm die Chance sieht, an richtig viel Geld zu kommen. Denn Jacob ist nicht nur Sprachlehrer, er ist ein wahres Sprachgenie. Sprache ist alles in seinem Leben, er kann sie in bunten Formen sehen, er kann jeden Dialekt erlernen und fast jeden sprachlichen Code dechiffrieren. Sein Sprachgefühl ist so fein, dass ihm schon der kleinste Fehler seiner Schüler fast körperliche Pein beschert. Wenn einer Gottes eigene Sprache rekonstruieren kann, dann Jacob Greve, da ist Edward sich sicher. Doch er ist nicht der einzige, der auf der Jagd nach dieser Sprache ist. Im Béarn, heute an der Spanisch-Französischen Grenze gelegen, arbeitet die junge Margarète Labé ebenfalls an der Entschlüsselung von Sprachen. Sie arbeitet für die Katholische Liga, die verbissen gegen die Calvinisten kämpft. Ob die Pfeifsprache, die von den Hirten im Béarn benutzt wird, ein erster Hinweis auf Gottes eigene Worte sein kann?

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Die unerträgliche Banalität des Seins – „Die Idiotin“ von Elif Batuman

Als Selin das erste Mal die heiligen Hallen von Harvard betritt, ist sie völlig überfordert. Hier anstellen, da anstellen, hier eine Mail-Adresse zugeteilt bekommen, dort für Kurse einschreiben. Beistand findet sie bei ihren Mitbewohnerinnen Hannah, die sie mehr mag und Angela, die sie weniger mag. Sie belegt Kurse in Linguistik, darstellender Kunst und Russisch, wo sich alle russische Namen aussuchen müssen, außer Svetlana und Ivan, dem ungarischen Mathematik-Studenten, in den Selin sich sofort und unglücklich verliebt. Sie schreibt Mails im Computer-Labor, findet spannende Ähnlichkeiten zwischen Ungarisch und Türkisch, isst in der Cafeteria und grübelt über der Sapir-Whorf-Hypothese. Und daraus besteht der gesamte erste Teil des Romans.

„Ich wusste nicht, wie man in eine andere Stadt zog oder Sex hatte oder einen richtigen Job oder wie ich jemanden dazu bringen sollte, sich in mich zu verlieben, oder wie ich etwas lernen sollte, das nicht nur meiner persönlichen Weiterentwicklung diente.“

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Im zweiten Teil reist sie immerhin mit Svetlana aus dem Russisch-Kurs nach Paris, wo sie in der Wohnung einer offenbar reichen Tante Svetlanas direkt gegenüber dem Musée d’Orsay wohnen und an der Seine joggen gehen. Montmartre ist ihr zu aufregend. Im weiteren Verlauf des Sommers reist Selin nach Ungarn, weil Ivan es auch tut. Damit das weniger auffällt, nimmt sie an einem Programm teil, im Rahmen dessen sie Englischunterricht für die Landbevölkerung geben soll. Dieser Teil des Romans, in dem Selin viele und sehr unterschiedliche Kontakte knüpft, und skurrile Situationen erlebt, ist alles, was den Roman aus der völligen Bedeutungslosigkeit rettet. 

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Coming of Age auf Irisch – Éilís Ní Dhuibhnes „The Dancers Dancing“

Im Sommer 1972 fährt ein Bus von Dublin in den äußersten Norden Irlands, ans östliche Ende von Donegal. An Bord sind Schülerinnen und Schüler, die in den Sommerferien im „Irish College“ ihre eigene Kultur besser (kennen)lernen sollen. Morgens gibt es Irisch-Unterricht, am Nachmittag Ausflüge an den Strand und abends werden traditionelle irische Tänze unterrichtet. Mit dabei ist Orla, die mit ihren Freundinnen Aisling und Sandra reist. Was als unterhaltsamer Schulausflug beginnt, wird für Orla zu einer entscheidenden Entwicklungsphase.

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Ihren Mitschülerinnen gegenüber fühlt Orla sich oft benachteiligt oder sogar minderwertig. Ihr Vater ist Maurer und kein Journalist wie Aislings Vater. Er verdient so wenig, dass ihre Mutter angefangen hat, Zimmer im Haus an junge Männer zu vermieten, die eine billige Unterkunft in der Stadt brauchen. Wenn die Zimmervermietung gut läuft, müssen Orla und ihr Bruder bei den Eltern im Schlafzimmer übernachten und manchmal steht sogar im Treppenhaus noch ein zusätzliches Bett. Freundinnen kann man da natürlich nicht einladen. Außerdem ist ihre Mutter häufig müde und überanstrengt und leidet unter Kopfschmerzen. Orlas Aufgabe ist es dann, ihr im Haushalt zu helfen und die Einkäufe für sie zu tragen. Dass sie das in den nächsten Wochen nicht wird tun können, bereitet ihr ein schlechtes Gewissen. Überhaupt empfindet Orla ihre Familie als peinliche Belastung. Es bereitet ihr beinahe physische Schmerzen, dass sie einen Tag ihre Tante Annie besuchen soll. Was, wenn eine ihrer Freundinnen die schräge Tante sieht, die immer ein Bein nachzieht und in diesem peinlich heruntergekommenen Häuschen wohnt?

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Jhumpa Lahiri: Mit anderen Worten

Mit dem Untertitel Wie ich mich ins Italienische verliebte erzählt Jhumpa Lahiri in diesem Buch von ihrer Leidenschaft für und ihrem Weg zum Italienischen. Die Begeisterung für diese Sprache entdeckt sie schon früh bei einer Studienreise nach Florenz. In ihrem Leben hat sie keinerlei Verwendung fürs Italienische, dennoch beginnt sie es zu lernen, zunächst mit einem Selbstlernkurs und mäßigem Erfolg. Viele Jahre später unternimmt sie einen weit radikaleren Schritt und zieht mit ihrer Familie für drei Jahre nach Rom. Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits eine gefeierte Schriftstellerin und hat mit The Lowland einen riesigen Erfolg gefeiert. Sie zieht in die Via Giulia, die in der römischen Altstadt liegt (falls das jemand wissen möchte: sie beginnt knapp südlich der Ponte Vittorio Emanuele II und verläuft dann, sich dem Tiber stetig annähernd, bis zur Ponte Sisto) und stürzt sich kopfüber in das Sprachabenteuer.

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Shakespeare: The Tempest – Margaret Atwood: Hag-Seed

1611 fertiggestellt und uraufgeführt ist „Der Sturm“ das letzte Stück, das Shakespeare vor seinem Tod fertigstellte. Es wird im allgemeinen zu seinen Romanzen gezählt. Was passiert, ist das:

The Tempest

In der ersten Szene erleidet Alonso, der König von Neapel, Schiffbruch durch einen plötzlich aufziehenden Sturm. Schuld daran ist Prospero, rechtmäßiger Herzog von Mailand, der vor 12 Jahren seinerseits durch eine Intrige seines Bruders auf einem entlegenen Eiland strandete, wo er seitdem mit seiner Tochter Miranda lebt. Prospero hat den Luftgeist Ariel dazu gebracht, einen Sturm aufziehen zu lassen. Und warum? Rache. König Alonso hat nämlich Prosperos fiesen Bruder Antonio dabei unterstützt, Prospero auszuschalten und seinerseits Herzog von Mailand zu werden. Zusammen mit Miranda und Prospero lebt noch Caliban auf der Insel, der missgestaltete Sohn einer Hexe, den Prospero zu seinem Sklaven gemacht hat. Prospero verfügt über magische Kräfte und kann Geister beschwören, vor allem eben den bereits erwähnten Ariel.

Mit an Bord des Schiffes war neben einer Menge Gefolge auch Alonsos Sohn Ferdinand. Der wird beim Schiffbruch vom Rest getrennt, stolpert orientierungslos über die Insel, trifft auf die schöne Miranda und macht ihr keine zehn Zeilen später einen Heiratsantrag. Auch Miranda ist hin und weg; nachdem sie ihre ersten 16 Jahre mit Vater und deformiertem Sklaven verbracht hat, erscheint Ferdinand ihr schön wie ein Engel. Allerdings wird es noch zwei Szenen dauern, bis die Verlobung wirklich stattfindet, man will ja nichts überstürzen. In dieser Szene aber, kurz vor dem Eintreffen Ferdinands, bezeichnet Prospero Caliban als „hag-seed“, falls sich jemand fragt, woher Atwood den Titel hat.

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Xiaolu Guo: Kleines Wörterbuch für Liebende

Als Zhuang in London den Flieger verlässt, könnte der Kulturschock größer kaum sein. Sie ist die Tochter chinesischer Bauern, die nach jahrelanger harter Arbeit eine Schuhfabrik eröffnen konnten. Ihre Tochter soll bessere Chancen haben als sie und so schicken sie Zhuang nach England, wo sie ein Jahr lang einen Sprachkurs besuchen soll. China hat sie bis dahin nie verlassen, englische Sprachkenntnisse hat sie fast gar nicht. Mühsam tastet sie sich heran, liest sich durch ihr Wörterbuch, schreibt Wort für Wort in ihr Notizbuch, das sie am Ende des Jahres gefüllt haben will.

„Ich bin erbärmliche Mensch, spreche erbärmliche Englisch und komme aus erbärmliche kleine Stadt in Südchina. Wir kennen dort nicht edel.“

Sie traut sich kaum, das Hostel zu verlassen, hadert mit dem ungemütlichen Wetter und findet das Essen, vor allem das Frühstück, im Grunde ungenießbar. Rettung findet sie in Kinos, wo sie die unterrichtsfreie Zeit in Doppelvorstellungen von Hollywood-Klassikern totschlägt. Dort lernt sie eines Tages einen Mann kennen, der ihr schön und interessant erscheint. Er lädt sie zu sich nach Hause ein, sie missversteht und glaubt, es sei für immer.

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Steven Pinker: The Language Instinct

Jeder Mensch wird mit einem Sprachinstinkt geboren. Das ist die grundlegende These, die Pinker in diesem Buch ausarbeitet. Wie genau der Spracherwerb dann ausfällt, ist abhängig vom (sprachlichen) Umfeld und den individuellen Voraussetzungen, grundsätzlich ist aber alles möglich. Damit ist er sehr nahe an Chomskys Universalgrammatik, auf die er auch mehrfach Bezug nimmt.

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Für den Spracherwerb bei Kindern gibt es eine „kritische Phase“, in der sich diese Fähigkeit rasant entwickelt, ohne dass eine explizite Unterweisung nötig wäre. Wird diese Phase aber versäumt, ist es enorm schwierig bis unmöglich, noch eine Sprache zu erlernen, was mehrfach bei „Bärenkindern“ zu beobachten war, die angeblich ohne jeden menschlichen Kontakt in der Wildnis aufgewachsen sind. Auch wird es mit zunehmendem Alter immer schwerer, eine weitere Sprache zu erlernen. Pinker begründet dies damit, dass die komplexe und energieaufwändige Fähigkeit des Spracherwerbs an einem bestimmten Lebenspunkt (ca. frühe Pubertät) als überflüssig eingestuft und eingestellt wird. Deshalb ist es für Menschen, die nach diesem Zeitpunkt eine weitere Sprache erlernen, fast unmöglich, diese akzent- und fehlerfrei zu sprechen.

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#einwortgibt Möglichkeiten

Unter dem Hashtag #einwortgibt organisiert das Literaturfest München gerade eine Blogparade zur Sprache und ihren Möglichkeiten bzw. Grenzen. Dazu halte ich auf Anfrage (und auch ungefragt) einen bunten Strauß von Kurzreferaten bereit, möchte mich an dieser Stelle aber auf den literarischen Bezug konzentrieren.

Viele Menschen haben die ständige Sorge, dass die deutsche Sprache verfällt, verfälscht wird, missachtet wird, verfremdet. Das ist seit mindestens 300 Jahren so und die deutsche Sprache macht noch immer einen recht stabilen Eindruck. Sprache ist vielleicht das demokratischste, was die Welt zu bieten hat. Alle können sie nutzen und alle können sie verändern und theoretisch sind dem keine Grenzen gesetzt. Grundsätzlich kann jeder jederzeit Teil jeder Sprechergemeinschaft werden und dann auch Sachen verändern, zumindest für sich. Es ist mir absolut unverständlich wie man das nicht großartig finden kann. Sprache verfällt nicht, sie verändert sich. Sie wird verändert von denen, die sie sprechen, sie wird nicht gemacht, sie entsteht immer wieder neu. Wenn sie das nicht mehr kann, wenn die Welt eine Sprache überholt, dann ist sie hinüber und verloren. Überleben kann sie nur durch ständige Innovation.

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Diana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto?

bahnhofauto„Lan, wie geht’s? Lass mal Späti treffen!“

Gemäß des Untertitels untersucht Diana Marossek in diesem Buch „Warum wir reden, wie wir neuerdings reden“. Über dieses Thema hat sie 2013 an der TU Berlin promoviert, damals noch mit dem Titel „Gehst du Bahnhof oder bist du mit Auto?“ Wie aus einem sozialen Stil Berliner Umgangssprache wird: Eine Studie zur Ist-Situation an Berliner Schulen 2009 – 2010.

Sie untersucht darin einen Soziolekt, den sie als „Kurzdeutsch“ bezeichnet, da eines der hervorstechenden Merkmale ist, dass die Sprechenden Kontraktionen wie ins, am, beim vermeiden. Aus Ich gehe ins Schwimmbad wird also Ich geh Schwimmbad. Diesen Soziolekt untersucht sie, da es sich vor allem um ein jugendsprachliches Phänomen handelt, an Schulen in verschiedenen Berliner Bezirken und stellt ihre Ergebnisse in diesem Buch vor. Kurzdeutsch zeichnet sich aber Marossek zufolge nicht nur durch das Auslassen von Kontraktionen aus, sondern auch durch das Auslassen von bestimmten Artikeln bzw. das Ersetzen dieser durch den „Kurzartikel“ d‘. Darüber hinaus findet sie in dieser Varietät aber auch rituelle Beschimpfungen, die keinesfalls der Beleidigung dienen, sondern vielmehr dem Ausdruck von Zugehörigkeit und Respekt, eine besondere, „harte“ Attitüde und eine Satzmelodie die vom Standarddeutschen abweichen kann. Und gerade weil das Kurzdeutsche all diese Aspekte umfasst, finde ich den Begriff auch schwierig, da er zu wenig greift – dieser Soziolekt umfasst eben eine Menge mehr Phänomene als nur eine Verkürzung an bestimmten Stellen. Aber immerhin nennt sie es Kurzdeutsch, am Beginn des Buchs erzählt sie, dass sie eigentlich über „Türkendeutsch“ schreiben wollte.

Überhaupt wird für ein Sachbuch ganz schön viel erzählt. Die Autorin berichtet von einem Dialog, den sie in einer Bibliothek gehört hat, nicht aber ohne vorher zu beschreiben, wie Raum (Spanplatte mit Birkenfurnier) und Bibliothekarin (Petra) aussehen. Wir lernen auch, dass sie in dieser Bibliothek war, weil sie nach dem Genuss von 1,5 Liter Apfelschorle eine Toilette brauchte. Auf ihrem Balkon pflanzt sie Kohlrabi und Geranien, Kaffee trinken geht sie mit Sarah. Diese Ausführlichkeit habe ich mir an anderen Stellen sehnlichst gewünscht – beispielsweise auf der leeren Seite, an deren Stelle ich ein Literaturverzeichnis erwartet hätte, das fällt nämlich gleich komplett weg. Einige Phänomene werden nur so knapp erläutert, dass sie für LeserInnen ohne Vorkenntnisse meiner Einschätzung nach verwirrend sein dürften. Auch wird nicht die Signifikanz aller angeführten Beispiele deutlich, da sie jeweils nur mit einigen Sätzen erklärt werden. Insgesamt wird das Konzept Kurzdeutsch nicht als schlüssiges Gesamtbild dargestellt, die einzelnen Aspekte bleiben zusammenhanglos und teils unklar, da oft definitive Angaben fehlen. Eine Angabe wie „eine überschaubare Zahl von Sprechern“ ist eben sehr schwammig und macht es unmöglich, sich ein detailliertes Bild des Untersuchungsgegenstands zu machen. Zumindest eine begründete Schätzung wäre da hilfreich, ideal wäre natürlich eine valide Zählung.

Das Thema Sprachwandel finde ich hochinteressant und ich freue mich über jedes Buch, das zwischen dem ganzen Sick’schen Kulturpessimismus positiv zu dem Thema steht. Leider ist dieses hier sehr oberflächlich und einige Erklärungen so vereinfacht, dass sie an falsch grenzen. Allen, die sich für das Thema interessieren, sei Heike Wieses Kiezdeutsch, erschienen 2012 bei C.H. Beck ans Herz gelegt, das eine ausführliche und nachvollziehbar erläuterte Studie zu einem etwas anders definierten Soziolekt vorlegt.

Zudem findet sich auf der Website der Autorin kurzdeutsch.de ein Link zu Marosseks Doktorarbeit sowie eine Leseprobe.


Diana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? Warum wir reden, wie wir neuerdings reden. Hanser Berlin 2016. 157 Seiten, € 15,90.

Das Zitat stammt von S. 103