sondern erlöse uns von dem Bösen – „Vater unser“ von Angela Lehner

Von der Polizei wird Eva Gruber in die Psychiatrie gebracht, ins Otto Wagner Spital, gelegen am Rande von Wien. Sie behauptet, eine ganze Kindergartengruppe erschossen zu haben. Man ahnt schnell, dass das nicht der Wahrheit entspricht.

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In der Klinik trifft sie nach Jahren endlich wieder auf ihren Bruder Bernhard, der dort wegen einer Essstörung behandelt wird. Dem Psychiater Dr. Korb erzählt sie, sie habe ihn ganz alleine großgezogen nach dem Tod der Mutter. Dass ihre Mutter irgendwann höchst lebendig und besorgt in der Klinik auftaucht, ist für Eva kein Grund zur Korrektur ihrer Geschichte. Eva Gruber ist eine in höchstem Maß unzuverlässige Erzählerin. Sie lügt permanent und mit Begeisterung und das schon seit ihrer Kindheit. Auf die Therapie will sie sich nicht einlassen. Man weiß ja auch nicht, ob sie wirklich eine nötig hat. Ihrer Ansicht nach sicher nicht, sie findet, sie sei die einzig normale im ganzen Spital und nur da, um ihren Bruder zu retten. Ungeachtet der selbstdiagnostizierten geistigen Gesundheit wacht sie nachts in ihrem eigenen Blut auf, weil sie sich im Schlaf selbst verletzt.

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Emma Henderson: Grace William Says it Loud

Grace wird 1946 als drittes Kind der Londoner Familie Williams geboren. Schnell wird ihrer Mutter klar, dass ihre jüngste Tochter sich anders und langsamer entwickelt als ihre älteren Geschwister. Sie wächst sehr langsam, lernt spät und nur mit Mühe laufen und kommt nie über Zwei-Wort-Sätze hinaus, die sie in die Welt schreit, trotz aller Therapiebemühungen kaum in der Lage, ihre Zunge zu beherrschen. In winzigen Schritten geht es voran, doch als Grace sechs Jahre alt ist erkrankt sie an Kinderlähmung. Nur knapp überlebt sie in einer Eisernen Lunge, einer ihrer Arme aber und ein Bein werden stark in Mitleidenschaft gezogen. Nelson nennt sie den jetzt beinahe nutzlosen Arm und hinkt fortan noch schiefer durchs Leben.

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Aussichtslos, sagt er Arzt. Grace werde niemals in der Lage sein, eine Schule zu besuchen oder ein eigenständiges Leben zu führen. Er empfiehlt, sie in eine spezielle Einrichtung zu schicken und so landet Grace im Alter von zehn Jahren in „The Briar“. Dem Zeitgeist entsprechend dient diese Einrichtung fast ausschließlich der Verwahrung von Menschen mit diversen Behinderungen. Sinnvolle Therapie- oder Beschäftigungsangebote gibt es kaum für die dort lebenden, dafür sind die Schikanen und Strafen des Personals umso ausgefeilter und brutaler. Ohne genau zu wissen warum, verbringt Grace Tage in dunklen „Strafräumen“, hungert und wird gezwungen, erniedrigende Arbeiten zu verrichten. Ihre einzige Stütze ist ihr Freund Daniel, Sohn eines halbseidenen aber angebeteten Antiquitätenhändlers, ein Epileptiker, der bei einem Unfall beide Arme verloren hat. Er zeigt Grace in den ersten Tagen alles nötige und wird später ihre erste und einzige große Liebe.

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Aminatta Forna: The Memory of Love

Elias Cole liegt im Sterben. Nach einem langen und bewegten Leben lassen ihn nun seine Lungen im Stich. Doch vor seinem Tod muss er noch etwas loswerden. Die Geschichte seiner Liebe zu und Besessenheit von Saffia, die er in jungen Jahren als Frau seines Kollegen Julius kennengelernt hat. Da kommt ihm Adrian gerade recht. Adrian ist ein britischer Psychologe, der für eine Hilfsorganisation nach Sierra Leone gereist ist. Er soll Menschen helfen, die nach dem Bürgerkrieg teils schwer traumatisiert sind. Es gelingt ihm aber zunächst nicht, zu den Menschen durchzudringen und die meisten Therapieansätze enden nach der ersten Sitzung. So hat er eine Menge Zeit, Coles Beichte abzunehmen.

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Im Krankenhaus findet Adrian einen Freund in Kai. Der junge Chirurg stammt aus Sierra Leone und hat im Gegensatz zu vielen Kollegen das Land nicht verlassen, auch wenn er seit dem Krieg unter schweren Albträumen leidet und einige Teile der Stadt meidet, weil die Erinnerungen zu schrecklich sind. Die beiden werden Freunde, obwohl Kai Adrians Rolle immer kritisch sieht. Er ist, wie viele seiner Landsleute, genervt von den vielen Menschen, die über Hilfsorganisationen ins Land kommen, viel zu meckern haben, oft wenig helfen und doch ewigen Dank erwarten. Die internationale Gemeinschaft habe, findet er, so lange weggeschaut, dass man auch jetzt ohne sie zurechtkomme. Die obligatorische Vorstellungsfrage, mit welcher Agentur man im Land sei, wird im Laufe des Romans zum Running Gag. Die Menschen, die aus dem Ausland nach Sierra Leone kommen, wollen vor allem vor etwas fliehen, so Kais Beobachtung. Es dauert nicht lange, bis er herausfindet, dass dieses etwas in Adrians Fall eine völlig desolate Ehe ist.

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Sarah Waters: Fingersmith

Susan Trinder wächst in den 1860ern in London auf. Sie lebt südlich der Themse, in der Lant Street, einer der düstersten und fiesesten Ecken der Stadt. Ihre Mutter ist als Mörderin gehängt worden, von ihrer Ziehmutter lernt sie vor allem Stehlen und Betteln.

SarahWaters_FingersmithEines Tages taucht Mr Rivers in der dunklen Behausung auf und macht Susan ein verlockendes Angebot. Er hat ein Auge auf Maud Lilly geworfen, eine junge Dame aus gutem Haus, die eine Menge Geld erbt, wenn sie heiratet. Susan soll nun Zofe und Vertraute von Maud werden, letztere von einer Heirat mit Mr Rivers überzeugen und anschließend helfen, sie schnellstmöglich ins Irrenhaus zu bringen. Für sie selbst springt dabei ein ganz ordentlicher Anteil am Erbe raus, ordentlicher auf jeden Fall als alles, was sie sich in ihrem Leben erträumt hätte.

Ohne große Gewissensbisse macht Susan sich also auf nach Buckinghamshire, wo die naive und ahnungslose Maud Lilly zusammen mit ihrem wunderlichen Onkel im trostlosen, abgelegenen Haus Briar lebt, das seinen ehemaligen Glanz schon lange verloren hat. Das schüchterne Mädchen in Mr Rivers Arme zu treiben, verspricht ein leichtes Unterfangen zu werden.

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Margaret Atwood: Alias Grace

In diesem Roman erzählt Atwood die Geschichte von Grace Marks. Grace war ein fünfzehnjähriges Dienstmädchen, das 1843 beschuldigt wurde, gemeinsam mit James McDermott, Angestellter im gleichen Haushalt, ihren Arbeitgeber Thomas Kinnear und dessen Haushälterin Nancy Montgomery ermordet zu haben. Anschließend sollen die beiden als Liebespaar in die USA geflohen sein, wo sie festgenommen wurden.

atwood_aliasgraceJames McDermott wurde zum Tode verurteilt, Grace Marks zu lebenslanger Haft, die sie zumindest zeitweise in der Psychiatrie verbrachte. Ein Kommitee zu ihren Gunsten versuchte über Jahre, ihre Freilassung zu erreichen. Die zeitgenössischen Quellen zu diesem Fall übertreffen sich gegenseitig in Sensationsgier und widersprechen sich zum Teil erheblich.

Aus den vorhandenen Quellen hat Atwood so gut es ging die Fakten destilliert und mit viel Fiktion einen Romanstoff daraus gemacht. Dazu hat sie Dr. Simon Jordan erfunden, einen jungen Arzt und Spezialisten auf dem noch jungen Gebiet der Psychologie. Im Auftrag von Graces Gönnern soll er herausfinden, was wirklich an den fraglichen Tagen geschah. Abwechselnd wird aus der Perspektive von Simon Jordan und Grace Marks erzählt. Der Einstieg in den Roman ist etwas zäh, denn Grace tut sich erst schwer damit, Vertrauen zu dem jungen Arzt zu fassen und ist zurückhaltend in ihren Berichten. Zudem benutzt sie zwar viel wörtliche Rede aber keinerlei Satzzeichen, die dies verdeutlichen würden, was das Lesen nicht leichter macht. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten aber gerät die Geschichte in Fahrt und Grace berichtet von ihrem Schicksal, das sie aus ärmlichen Verhältnissen in Irland in noch schlimmere in Kanada gebracht hat. Im Alter von 13 beginnt sie schließlich als Dienstmädchen zu arbeiten und gerät so in den Haushalt von Thomas Kinnear,  der ihr ein sehr sympathischer Dienstherr ist. Nancy Montgomery, seine Haushälterin, hat Grace angeworben und sie hofft, in ihr eine Freundin zu finden. Doch schnell erkennt sie, dass Nancy eifersüchtig über Thomas wacht und sehr empfindlich reagiert, wenn er Grace gegenüber zu nett ist, was das Verhältnis der beiden Frauen schnell und nachhaltig stört.

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