Brutalos am Futterhaus – Andreas Tjernshaugens „Das verborgene Leben der Meisen“

Ich weiß überhaupt nicht, wie oft ich in den letzen Monaten über Sinn und Unsinn des Vogelfütterns diskutiert habe. Quintessenz ist meistens: nützt nichts, schadet aber auch nichts. Grund genug, eine Batterie Vogelfutter auf dem Balkon aufzufahren. Die ersten beiden Winter war die Futterstelle klar in Amsel-Hand. Strenggenommen war sie zumindest einen Winter lang in der Hand eines Amsel-Männchens, das den ganzen Tag seinen Futtervorrat verteidigte aber wenig fraß. Er wird, wie auch beinahe alle seine Bremer Artgenossen, der letztjährigen Usutu-Virus-Epidemie zum Opfer gefallen sein. Von jetzt auf gleich war mein Balkon amselfrei. Glück für die Meisen, die langsam und dann ziemlich aggressiv in diese Lücke drängten. Mittlerweile gehört der Balkon nebst allem darauf etwa zehn Kohl- und Blaumeisen, die in wenig friedvoller Ko-Existenz kiloweise Mehlwürmer fressen. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht auch die Zebraspringspinnen-Kolonie auf dem Gewissen haben, die sich über Jahre erfolgreich auf dem Balkon breitgemacht hatte. Auf jeden Fall ist sie weg. Ich würde es ihnen nicht verdenken.

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Auch der Autor Andreas Tjernshaugen hat in seinem Garten nahe Oslo über lange Zeit Meisen und ihr Verhalten beobachtet. Das allerdings weitaus systematischer als ich. Die kleinen Vögel faszinierten ihn so sehr, dass er beschloss, mehr über sie zu lernen. Er besuchte Forscher in England und Norwegen, installierte ein Vogelhaus mit einer Kamera darin und stellte sich den Wecker auf halb fünf morgens, um das Balzverhalten seiner Gartenbewohner beobachten zu können.

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Josef H. Reichholf: Ornis – Das Leben der Vögel

ornis„Die meisten Vögel können (viel) mehr, als wir wissen und ihnen zutrauen.“

Mein erstes Aufeinandertreffen mit ernsthaften Ornithologen war vor ungefähr fünf Jahren im niederländischen Fochtelooerveen, einem Moorgebiet, in dem es Kraniche gibt. Das war mir überhaupt nicht klar, als ich auf einem Aussichtsturm auf mindestens 20 Männer mit gigantischen Kameras und Fernrohren traf, die mit höchster Konzentration ins Moor starrten. Von nichts anderem auf der Welt nahmen sie Notiz. Allein der Aufwand, diese Ausrüstung eine sehr lange, steile, enge Treppe hochzuschleppen, erschien mir grundsätzlich unverhältnismäßig.

Josef H. Reichholf wäre da sicher anderer Ansicht. Er war Ornithologe bei der Zoologischen Sammlung München, lehrte an der dortigen Uni und war 20 Jahre lang Generalsekretär der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern. Mit anderen Worten – er ist besessen und das schätze ich. Ornis ist zum einen der Begriff für die Vogelwelt, aber auch ein Begriff für Ornithologen, den diese scheinbar auch ernsthaft verwenden. Ich finde das großartig. „Na, sind Sie etwa auch Orni?“ ist kein Satz, den ich den sehr gewissenhaften Männern mit Profi-Ausrüstung zugetraut hätte.

Nun aber zum Buch. In diesem geht es, wie der Titel vermuten lässt, um Vögel und deren Leben. Die verschiedenen Themenbereiche wie Federn, Nistverhalten, Vogelzug und Lebensraum werden generell abgehandelt und dann an einen wenigen Arten verdeutlicht. Positiv ist dabei, dass in der Regel heimische Vögel zur Illustration herangezogen werden, die man auch als ornithologisch völlig ungebildeter Mensch kennt, sicher schon mal gesehen hat und wahrscheinlich sogar erkennt – Amseln, Stockenten, Blaumeisen, Turmfalken. Nur bei ausgefalleneren Phänomenen müssen auch mal exotischere Vögel wie das Thermometerhuhn herhalten. Reichholf erklärt Dinge, die man noch nie richtig verstanden hat und beantwortet Fragen, von denen man noch nicht wusste, dass man sie stellen kann.

Bei all dem merkt man, dass der Autor sich auf seinem Fachgebiet wirklich gut auskennt und dass er für das Thema bedingungslos brennt, auch und gerade für den Vogelschutz. Seiner Ansicht nach ist dieser selbstverständlich zwingend nötig, er ist aber merklich der Ansicht, dass er nicht immer richtig umgesetzt wird. Es ärgert Reichholf, dass beispielsweise keine Vogelfedern oder verlassene Nester gesammelt werden dürfen, obwohl deren Untersuchung wichtige Anhaltspunkte für Populationsveränderungen und Belastungen der Vögel durch Umweltgifte geben könnte. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Wissenschaft und starre Gesetze nicht immer das beste Verhältnis zueinander haben und zweifelsohne ist das für wissenschaftlich Arbeitende oft frustrierend. Aber es gibt Passagen, in denen dieser Umstand ohne jede Übertreibung auf zwei Seiten fünf mal angesprochen wird. Damit wirkt das leidenschaftliche Plädoyer für einen neu gedachten Umweltschutz leider etwas ermüdend, obwohl eine Reform tatsächlich dringend nötig sein mag.

Sieht man darüber hinweg, ist Ornis ein sehr fundiertes und lesbares Sachbuch, dessen leicht behäbiger Stil mitunter an Grzimek erinnert, womit Reichholf ja aber in bester Tradition steht. Hin und wieder überrascht er dafür tatsächlich mit Witzen. Wer einen Einstieg in die Thematik will, ist mit diesem sehr nachvollziehbar gegliederten Buch gut beraten. Das umfangreiche kommentierte Literaturverzeichnis im Anhang hilft weiter, wenn man nach der Lektüre selber auch Orni sein will, was bei der transportierten Begeisterung für die Vogelwelt gar nicht unwahrscheinlich ist.

Ich habe übrigens keinen Kranich gesehen im Fochtelooerveen, dafür zwei Kreuzottern, was auch sehr spannend war.

Braucht jetzt noch jemand Orni-Humor?


Josef H. Reichholf: Ornis. Das Leben der Vögel. Ullstein 2016. 272 Seiten, € 12,99. Erstausgabe: C.H. Beck 2014.

Das Zitat stammt von S. 221 der Taschenbuch-Ausgabe.