Familienglück auf der Kippe – „Angerichtet“ von Herman Koch

Die Brüder Paul und Serge Lohmann treffen sich mit ihren Frauen Claire und Babette in einem noblen Amsterdamer Restaurant, um eine brisante Angelegenheit zu besprechen. Ihre beiden pubertierenden Söhne haben zusammen etwas angestellt – dass es sich dabei keineswegs mehr um einen unbedachten Jungs-Streich handelt, ist schnell klar, doch die Größe der Tat wird erst nach und nach deutlich. Besonders für Serge ist das eine schwierige Situation, gilt er doch schon als nächster Premierminister. So kurz vor der Wahl kann er sich einen Skandal dieser Größenordnung nicht mehr leisten.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Paul. Zu Beginn ist sein Ton dabei noch locker-ironisch. Er mokiert sich über den affektierten Oberkellner, die astronomischen Preise auf der Karte und überhaupt über Leute, die sich in solchen Läden das Geld aus der Tasche ziehen lassen. Doch sein Ton wird zunehmend gereizt. Man merkt, dass es für Paul um sehr viel geht an diesem Abend und auch, dass er sich generell nicht besonders gut unter Kontrolle zu haben scheint. Besonders der Kellner reizt ihn, der jeden Gang lang und breit erklärt, von der Herkunft der Tomate berichtet und mit seinem abgespreizten Zeigefinger dem Teller des Speisenden gefährlich nahe kommt. Dazu kommt das drohend über der Familie schwebende Unheil, das nun einmal da ist und sich nicht mehr aufhalten lässt.

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Ein paar Worte zum Ehrengast Niederlande – Flandern

Seit 1976 gibt es den Ehrengast auf der Buchmesse. Dieses Jahr ist es kein Land, sondern ein grenzübergreifender Sprachraum, nämlich der niederländisch/flämische. Damit schlägt man ja auch ein bisschen eine Brücke zum letztjährigen Gast Indonesien. Ich schätze sowohl die Niederlande als auch Belgien sehr, wegen ihrer Sprache, wegen ihrer Pommes, wegen ihrer Literaturen und wegen ihres Bieres, das viele so abscheulich finden. Auf dem Papier sind die sprachlichen Unterschiede marginal, aber ich habe Niederländisch bei einer Flämin gelernt und brauche Tage, um in den Niederlanden irgendwas zu verstehen. Allerdings versetzen mich meine sprachlichen Grundkentnisse auch in die glückliche Position, in Ostfriesland überhaupt irgendwas zu verstehen.

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Donna Tartt: Der Distelfink

distelfink„Aber ich denke, vielleicht ist es mehr wie eine Spalte mit Zahlen: Wenn du am Anfang zwei falsche Zahlen einträgst, ist am Ende die Summe anders. Wenn du es zurückverfolgst, findest du den Fehler – die Stelle, an der sich das Ergebnis verändert.“

Theo Decker hat einen Menschen getötet. Das erfährt man gleich auf der ersten Seite. Er sitzt in einem Amsterdamer Hotelzimmer, es ist Winter, es ist kalt und er hat panische Angst, entdeckt zu werden, doch sein Niederländisch reicht nicht aus um zu erfahren, wie die Ermittlungen laufen. Man erfährt nicht, wen er getötet hat und warum, die nächsten 890 Seiten nicht.

Stattdessen erfährt man, dass Theo im Alter von dreizehn seine Mutter bei einem Terroranschlag auf ein Museum verloren hat. Sie wollte ihm ein besonderes Gemälde zeigen, den Distelfink. Doch Theo ist viel interessierter an einem Mädchen mit feuerroten Haaren, das mit einem älteren Verwandten die Ausstellung besucht. Als er den Mut findet, sich ihr zu nähern, explodiert eine Bombe und beendet sein bisheriges Leben. Impulsiv rettet er den Distelfink aus den Trümmern des Gebäudes und behält ihn. Schnell realisiert er, dass er ein bedeutendes Kunstwerk entwendet hat und weiß, dass er es zurückgeben muss. Doch er findet nicht den Mut, mit jemandem darüber zu sprechen und je länger er es behält, umso unmöglicher wird es. Langsam wird deutlich, dass dieses Gemälde sein ganzes Leben bestimmen wird, ebenso wie Pippa, das Mädchen, in das er sich Minuten vor der Explosion verliebt hat.

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