Als Truman Capote 1984 starb, gründete sein Ruhm weniger auf seinen Romanen als auf seiner spektakulären Selbstinszenierung. Sein großer Erfolg mit dem True Crime-Roman In Cold Blood war da schon fast zwanzig Jahre her und seinen letzten Roman Answered Prayers konnte er nicht mehr fertigstellen. Er wurde erst posthum veröffentlicht. Ebenfalls posthum veröffentlicht wurde sein eigentlich erster Roman Summer Crossing. Er schrieb ihn in den 40er-Jahren und vergrub das Manuskript in einer Schublade. Später behauptete er, er habe den Text zerstört, weil er ihm nicht mehr gefallen habe. In Wahrheit aber hatte er die Hefte einfach in seiner damaligen Wohnung in Brooklyn zurückgelassen und der mit der Entrümpelung beauftragte Hausmeister bewahrte sie, zusammen mit anderen Erinnerungsstücken, auf. So tauchte das Romanmanuskript 2004 beim Auktionshaus Sotheby’s auf und konnte 2005 veröffentlicht werden.
New York
Essen aus Büchern: Gnocchi mit Steinpilzen und Specksauce aus Christopher Eckers „Der Bahnhof von Plön“
Das heutige Essen aus Büchern stammt aus Der Bahnhof von Plön, was das absolut ekligste Buch ist, das ich jemals gelesen habe. Auf den ersten hundert Seiten ist fast die komplette Handlung der Transport eines Berges Leichen aus dem dritten in den ersten Stock eines Hotels. Die Leichen sind schon sehr lange Leichen, es wimmelt von Fliegen, Maden und Flüssigkeiten aller Art. Der Protagonist des Romans, dem dieser Transport zufällt, behält bemerkenswerterweise trotzdem seinen Appetit.
„Und während ich Gnocchi mit Steinpilzen und Specksauce verzehrte und dazu die dritte Flasche Cola des Tages trank, musste ich an etwas denken, das mir Jérôme kürzlich erzählt hatte: Ameisen produzieren unentwegt einen Duftstoff, damit sie von ihren Artgenossen nicht für tot gehalten und aus dem Bau geschleppt werden.“
Ein im Erdgeschoss des Gebäude befindliches Restaurant versorgt ihn mit Essen und Cola. Es gibt eine lange Liste italienischer Gerichte, ich habe mich für die Gnocchi entschieden. Nicht, weil ich das noch nie gegessen hätte, sondern wegen der Absurdität der Situation, in der sie gegessen werden.
Nicole Krauss: The History of Love
Ich weiß nicht, ob Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer zu viel oder zu wenig über ihre jeweiligen Bücher gesprochen haben, aber 2005 haben sie den gleichen Roman veröffentlicht. Ein Kind, dessen Vater früh verstorben ist, fährt kreuz und quer durch New York auf der Suche nach Hinweisen, die ihm bei der Lösung eines Rätsels helfen können. Eine Schtetl-Geschichte kommt vor und natürlich geht es um die ganz große Liebe. Zwischendurch gibt es formale Extravaganzen wie Seiten, auf denen nur ein einziger Satz steht.
Was bei Extremely Loud and Incredibly Close Oskar Schell war, ist in The History of Love Alma Singer. Almas Vater ist früh an einer Krankheit gestorben und sie lebt nun mit ihre Mutter und ihrem Bruder Bird in New York. Bird glaubt, einer der 36 Gerechten zu sein, baut eine Arche für die bevorstehende Flut und muss einmal wöchentlich mit einem Psychologen darüber sprechen. Alma hält die Erinnerung an ihren Vater aufrecht, indem sie alles über essbare Pflanzen in der Wildnis lernt und in einem Daunenschlafsack schläft, so wie ihr Vater es angeblich einst getan hat.
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben
Das Erscheinen von Ein wenig Leben auf dem deutschen Markt wurde begleitet von einer umfangreichen Blogger-Aktion, weshalb gefühlt auch schon in jedem Blog was darüber stand. Jetzt also auch hier.
Der Roman kreist um die vier Freunde Willem, Jude, JB (Jean-Baptiste) und Malcolm, die alle in New York leben. Sie stammen fast alle aus anderen Städten, haben zusammen das College besucht, und nach und nach hat es sie alle in die Metropole verschlagen. Jeder von ihnen ist unter völlig unterschiedlichen Bedingungen gestartet, jeder steuert auf ein völlig anderes Ziel zu. Was sie gemeinsam haben, ist ihre unvergängliche Freundschaft.
Recht schnell konzentriert die Aufmerksamkeit der Autorin sich aber vor allem auf einen Charakter, auf Jude St. Francis. Er ist der verschlossenste der vier, was auf seine äußerst brutale Kindheit zurückzuführen ist. Jude schämt sich für seinen von Narben gezeichneten Körper und noch mehr schämt er sich für das, was er als Junge tun musste. Mühsam gibt er vor, normal zu sein, eine normale Kindheit und Jugend gehabt zu haben, so ereignislos, dass es sich kaum lohnt, davon zu erzählen. Er fürchtet, dass sich seine Freunde voller Abscheu von ihm abwenden werden, wenn sie seine Geschichte kennen. Als Leser weiß man immer mehr als Judes Freunde und erlebt mit, wie schwer es für diesen Mann ist, jeden Tag aufs Neue eine Normalität vorzutäuschen, die maximal weit entfernt ist. So positiv die Erzählung der Freundschaft und Zuneigung ist, so bedrückend ist dann doch die Stimmung in diesem Roman.
Kirsten Bakis: Lives of the Monster Dogs
2009, noch in weiter Zukunft, als Bakis über die Monsterhunde schrieb, tauchen in New York verstörende Kreaturen auf. Sie haben Hundeköpfe und Menschenhände, gehen auf zwei Beinen und können sprechen. Sie tragen wallende Kleider und Uniformen, wie man sie seit 100 Jahren nicht gesehen hat. Sie sind das endlich geglückte Experiment, das Augustus Rank Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, als er eine absolut loyale Armee erschaffen wollte, deren Verluste leicht ausgleichbar wären. Nun sind sie ihren Erschaffern entkommen und ziehen im Rudel nach New York, sagenhaft reich und zumindest auf den ersten Blick deutlich friedlicher, als Rank sich das mal gedacht hatte.
„No human loyalty can equal the fanatic devotion of a dog.“
Durch einen Zufall wird Cleo ihre Vertraute und Pressefrau. Die Hunde gewähren ihr Einblicke in ihre Welt, laden sie zum Essen ein und einige werden sogar ihre Freunde. Cleo ist es auch, die jetzt über die unvergessliche Zeit berichtet, die sie mit den Monsterhunden verbracht hat.
Der Rahmen des Romans ist schon ein recht absurder und man muss das natürlich einfach als Science Fiction akzeptieren. Der übrige SciFi-Anteil hält sich allerdings in Grenzen, bis auf Hüte aus Metall und Laserpistolen im Handtaschenformat, welche die meisten Frauen stets bei sich tragen. Und es gibt keine Handys. New York 2009 und Cleo muss von öffentlichen Münzfernsprechern aus telefonieren, wenn sie unterwegs ist. Ich finde das immer spannend, dass alle AutorInnen sich vor 20 Jahren vorstellen konnten, dass wir mit einem dicken Waffenarsenal durch die Gegend laufen, aber nicht, dass wir Mobiltelefone besitzen.
Essen aus Büchern: Groundnut Stew aus Teju Coles „Open City“
Ich fand Erdnuss in Essen immer wirklich keine gute Idee. Erdnüsse an sich sind super, aber nachdem vor 15 Jahren mein erstes Saté-Gericht leider furchtbar war, habe ich das nie wieder probiert. Zum Glück gibt es Essen aus Büchern, ich hätte echt was verpasst! Groundnut Stew ist nämlich der Hammer.
Groundnut Stew, ein Erdnusseintopf, ist ein in großen Teilen Westafrikas beliebtes Gericht. Ein „richtiges“ Rezept zu finden ist damit aussichtslos und das, was ich gemacht habe, ist ein Mashup aus den kleinsten gemeinsamen Nennern verschiedener Rezepte, die ich gefunden habe. Mit Hühnchen arbeiten eigentlich alle Rezepte, dazu können kommen Rindfleisch, Lammfleisch, (getrockneter) Fisch, Okra, Koriander und so weiter und so fort. Die Standardbeilage ist anscheinend Reis.
Jami Attenberg: Saint Mazie
„Wenn ihr die Schönheit im Dreck nicht sehen könnt, dann tut ihr mir leid. Und wenn ihr nicht sehen könnt, warum die Straßen hier was Besonderes sind, dann geht doch nach Hause.“
Saint Mazie ist das Porträt von Mazie Phillips, der „Königin der Bowery“. In New York machte sie sich einen Namen, indem sie über Jahrzehnte den Obdachlosen der Lower East Side half, ihnen Geld gab, zu einem Schlafplatz verhalf oder, wenn nötig, den Krankenwagen rief.
Viel bekannt ist nicht über diese ungewöhnliche Heilige, die ihre Taten nicht als etwas sah, das außergewöhnlich gewesen wäre oder gar für die Nachwelt festgehalten werden müsste. Viel mehr als einen New Yorker-Artikel aus dem Jahr 1940 und einen Nachruf von 1964 findet man online nicht. Selbst ohne Kinder oder andere Familienmitglieder, die sie zu versorgen gehabt hätte, konnte sie das Geld ebenso gut denen geben, die es brauchten, so ihre Meinung.
Aus den wenigen bekannten und vielen fiktiven Fragmenten konstruiert Attenberg einen Roman, zusammengesetzt aus Tagebucheinträgen, die von 1907-1939 reichen, Bruchstücken einer Biographie und Gesprächen mit Menschen, die eine Erinnerung an Mazie oder die Familie Phillips haben.
Teju Cole: Open City
„The walks met a need: they were a release from the tightly regulated mental environment of work, and once I discovered them as therapy, they became the normal thing, and I forgot what life had been like before I started walking.“
Julius lebt als Psychiater in New York. Es ist seine erste Berufserfahrung nach dem Studium und der durchgetaktete Klinikalltag, der Umgang mit den Patienten und ihre Probleme, die ihn manchmal auch nach Feierabend noch verfolgen, machen ihm zu schaffen, ebenso die Trennung von seiner Freundin. Die Therapie, die er für sich entdeckt, ist das Laufen. Kein sportliches Laufen sondern einfach Spaziergänge. Er lässt sich durch sein Viertel treiben, durch andere Teile New Yorks, den Central Park, an den Hudson. Gelegentlich besucht er seinen alten Professor Saito, der zurückgezogen in seiner Wohnung lebt und sich über den Austausch freut. Unterwegs beobachtet er die Menschen, die ihm begegnen und die Gebäude, an denen er vorbeikommt. Er berichtet über das, was er sieht und die Erinnerungen, die diese Begegnungen in ihm auslösen, an seine Studienjahre, an seine Kindheit in Nigeria. Letzteres verleitet ihn schließlich auch dazu, nach Brüssel zu reisen, die Stadt, in der seine Oma lebt oder lebte, seine deutschstämmige Großmutter mütterlicherseits. Es ist sehr lange her, dass er sie zuletzt gesehen hat, als sie seine Familie in Nigeria besuchte. Der diffuse Wunsch, ihr vielleicht zufällig zu begegnen, bringt ihn nach Belgien, wo er seinen gesamten Jahresurlaub verbringt. Auch hier schlendert er durch die Stadt, ohne jedoch seine Großmutter zu treffen, dafür aber einen Marokkaner, der ein Internetcafé betreibt und mit dem er über islamischen Extremismus spricht.
Jonathan Lethem: Der Garten der Dissidenten
Rose Zimmer, geborene Angrush, ist stolze Herrscherin über die Sunnyside Gardens, ein kleines Viertel in New York, ein linkes Vorzeigeprojekt mit gemeinsam genutzten Gärten hinter den Häusern und gut organisierter Kinderbetreuung. Zumindest ist es das, als Rose und ihr Mann Albert ihre Wohnung 1939 beziehen. Nur wenige Jahre später wird der deutschstämmige Albert als Spion in die DDR beordert und Rose bleibt mit Tochter Miriam zurück. Mit zahlreichen Liebschaften tröstet sie sich über den Verlust hinweg und erzieht Miriam im Geiste ihrer kommunistischen Überzeugung. Politisch aktiv wird auch Miriam als Erwachsene, wendet sich allerdings eher der Hippie- und New-Age-Bewegung zu.
Und so folgt man der Geschichte der Familie Angrush/Zimmer/Gogan über drei Generationen, von der engagierten, rekrutierenden, diskutierenden, starrköpfigen Rose über die protestierende, in Kommunen lebende, provozierende Miriam bis zu deren Sohn Sergius, der ein wenig verloren ist in dieser Welt, an der er gerne einiges ändern würde, wenn er denn wüsste, wie. Am Ende umfasst diese Familiensaga achtzig Jahre in denen viel passiert, in der Familie und außerhalb.
Man folgt dabei nicht nur den Biographien und Kämpfen der Familienmitglieder sondern auch der Entwicklung der linken Bewegungen Amerikas. Rose kämpft nicht nur für die Arbeiterbewegung, sondern auch für die Rechte von Schwarzen und Homosexuellen, eine Offenheit, die ihr eine Affäre und den Rausschmiss aus der kommunistischen Partei einbringt – „fick keine schwarzen Cops mehr“ ist der drastische Einstieg in den Roman. Tochter Miriam, ausgestattet mit allem Wissen über Geschichte und politische Theorie, das Rose ihr mitgeben konnte, findet ihre Bestimmung in den Studentenprotesten und der Frauenrechtsbewegung der 1970er. Sergius, Sohn aus der Ehe mit Protestsänger Tommy Gogan, strandet hingegen ein wenig zwischen Occupy, Tea Party und 99%.
Es erleichtert das Lesen ungemein, wenn man von all diesen Thematiken zumindest eine grobe Idee hat. Es hilft auch, wenn man sich ein Personendiagramm malt, diesen hilfreichen Hinweis hat mir eine Kollegin gegeben, die das Buch vor mir gelesen hat. Es kommen viele Personen vor, manche nur für kurze Zeit, manche 50 Seiten lang nicht. Das liegt auch an der Konstruktion des Romans – die Handlung springt zwischen allen Zeitebenen und allen Orten, von den 40ern in die 70er in die 00er-Jahre und wieder zurück, von der DDR nach New England, nach Manhattan. Es gibt Rückblenden und Vorausdeutungen, Briefe, Erzählungen und Protokolle und in alldem kann man leicht verloren gehen.
Aber es lohnt sich, einen Weg durch das Dickicht zu finden. Der Roman ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite, wird trotz aller politischen Theorie nicht trocken und hat vor allem fantastische Charaktere, die keine Schablonen sind und glaubhafte Konflikte mit sich selbst, der übrigen Menschheit und nicht zuletzt ihren Idealen austragen. Trotz aller Komplexität der Thematik und Handlung ist der Roman extrem gut lesbar und zieht einen mühelos von Seite zu Seite und das auch noch mit ziemlich viel Humor.
Jonathan Lethem: Der Garten der Dissidenten. Fischer 2015. 476 Seiten, € 11,99. Übersetzt von Ulrich Blumenbach. Deutsche Erstausgabe Tropen 2014. Originalausgabe: Dissident Garden. Doubleday 2013.