Vivas Nos Queremos – Fernanda Melchors „Saison der Wirbelstürme“

Mit dem Tod einer Hexe beginnt Melchors Roman, der im abgeschiedenen mexikanischen Dorf La Matosa inmitten von Zuckerrohrplantagen und Armut spielt. Ihre Leiche wird in einem Entwässerungsgraben gefunden, so spät, dass man sie kaum noch identifizieren kann. Den Stoff für ihren Roman hat die Autorin in den Nachrichten gefunden und dafür hat sie wahrscheinlich nicht lange suchen müssen. Die Gewalt, die Melchor in ihrem Roman schildert, richtet sich primär gegen Frauen. Die ist in Mexiko so allgegenwärtig wie in nur wenigen anderen Ländern der Welt. Empfindlich darf man nicht sein für diesen Text – die Sprache ist roh, die Taten noch roher.

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Das Leben in La Matosa ist von Perspektivlosigkeit geprägt. Die Jungen und Männer schlagen ihre Zeit im Park oder der Kneipe tot, trinken, koksen, schlafen bis weit in den Tag hinein. Arbeit gibt es kaum im Ort, nur hier und da lässt sich ein bisschen Geld mit Gelegenheitsjobs verdienen. Das Geld verdienen die Frauen, meistens mit Prostitution. Das geht ganz gut in diesem Ort, der an einer wichtigen und viel frequentierten Fernstraße liegt. Gewalterfahrungen haben sie alle gemacht: In der Familie, in der Ehe, bei der Arbeit. Mit am schlimmsten trifft es die Hexe, die in einem heruntergekommenen Haus am Rande der Plantagen lebt. Als Heilkundige wird sie oft von den Frauen des Dorfes besucht, dabei aber ebenso verachtet wie gefürchtet. Sie weiß von jedem Liebeszauber und von jeder Abtreibung. Die Tränke für die Frauen braut sie in ihrer Küche, in ihrem Keller feiert sie mit den Männern, die selbst oft nicht wissen, was sie von ihr halten sollen.

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Der feine Unterschied zwischen tot und begraben – „Sing, Unburied, Sing“ von Jesmyn Ward

Es ist ein ungewöhnlicher Roadtrip, zu dem Leonie mit ihren Kindern Jojo und Kyla aufbricht. Endlich soll Michael, ihr Freund und Vater der Kinder, aus dem Gefängnis entlassen werden. Mit Leonies Freundin Misty im Schlepptau macht die Familie sich auf den Weg in den Norden Mississippis, um ihn in der Freiheit willkommen zu heißen.

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Die Beziehung zwischen Leonie und ihren Kindern ist zumindest angespannt. Seit Michael im Gefängnis ist, leben die drei bei Leonies Eltern, die für Jojo und Kyla zu Ersatzeltern geworden sind. Unterstützung von Michaels Eltern können sie nicht erwarten. Leonie ist schwarz, Michael ist es nicht, und dieser Umstand reicht, um die Beziehung und die daraus entstandenen Kinder von vornherein nicht zu akzeptieren. Ohnehin ist die Situation zwischen den beiden Familien deutlich angespannt, seit Michaels Cousin vor etlichen Jahren Leonies Bruder Given erschossen hat. Trotz anderslautenden Zeugenaussagen wurde die Tat damals als tragischer Jagdunfall zu den Akten gelegt.

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Ann Patchett: Bel Canto

In einem nicht näher benannten südamerikanischen Land wird der Geburtstag des japanischen Unternehmers Hosokawa groß gefeiert. Man hofft, dass seine Firma im Land investieren wird und hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um einen großen Empfang zu organisieren. Sogar die von ihm vergötterte Opernsängerin Roxanne Coss hat man zu einem kostspieligen Auftritt überreden können. Die Villa des Vizepräsidenten, in der die Feier stattfinden soll, ist auf Hochglanz poliert. Alles läuft wie am Schnürchen, nur Präsident Masuda sagt wegen nicht aufschiebbarer anderer Verpflichtungen ab. Was alle wissen und keiner wissen soll: die unaufschiebbare Verpflichtung ist die wöchentliche Zusammenfassung seiner Lieblings-Telenovela. Das enttäuscht besonders die Terroristen, die nach dem letzten Ton aus Coss Kehle in den Salon stürmen, um den Präsidenten zu entführen. Als sie sein Fehlen bemerken, setzen sie die gesamte Gesellschaft als Geiseln fest.

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Als Patchetts Roman 2001 erschien, war die Erinnerung an die Geiselnahme in der japanischen Botschaft in Lima noch recht frisch. 1996 waren dort bei einem Empfang 480 Menschen festgesetzt worden. Einen Großteil ließ man bald frei, doch 120 der Geiseln wurden über vier Monate in der Botschaft festgehalten, während die Verhandlungen auf der Stelle traten.

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Ernst Haffner: Blutsbrüder

In den frühen 1930ern, als die wirtschaftliche wie soziale Lage in Deutschland nicht sehr rosig war, berichtete Ernst Haffner erstmals von den Blutsbrüdern, einer Clique, wie es sie in Berlin zu dieser Zeit massenhaft gab. Die Gruppe besteht aus jungen Männern und Jungen, zum Teil nicht älter als 15 Jahre, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr bei ihren Eltern leben und sich, so gut es eben geht, auf der Straße durchschlagen. Sie betteln, prostituieren sich und stehlen, schlafen in billigen Herbergen und vertrödeln die Zeit in warmen Kneipen.

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Die Blutsbrüder bilden einen festen und solidarischen Verbund, teilen was sie haben und schützen die anderen. An die Zukunft denkt man nicht. Wenn einer mal dreißig, vierzig Mark hat, werden die noch am gleichen Abend versoffen, auch wenn man von dem Geld einen ganzen Monat lang eine billige Miete zahlen könnte. Sie alle wissen, dass ihre Zukunft ohnehin nicht viel zu bieten hat. Nach der verkorksten Jugend mit Strafanzeigen, Ausbrüchen aus Fürsorgeanstalten und Gefängnisaufenthalten glaubt keiner mehr, noch groß was erreichen zu können. Nach außen verhalten die Jungen sich gleichgültig bis skrupellos und können auch recht brutal werden.

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Ellen Feldman: Scottsboro

1931 befinden sich Victoria Price und Ruby Bates auf dem Heimweg von Chattanooga. Sie reisen mit einem Frachtzug, in dem sie gar nicht sein dürften, denn sie haben die Staatsgrenze in „unmoralischer Absicht“ passiert – beide verdienen ihr Geld gelegentlich mit Prostitution. Mit an Bord sind etliche Jugendliche und junge Erwachsene, Weiße und Schwarze. Zwischen den beiden Gruppen bricht über eine Kleinigkeit ein Kampf aus, der schnell eskaliert. Der Zug hält mitten im Nirgendwo in der Nähe von Paint Rock und ein wütender Mob, bewaffnet mit Gewehren und Stöcken, will den Schwarzen zeigen, wer hier das Sagen hat. Schnell entdecken die selbsternannten Ordnungshüter die beiden Mädchen und werden misstrauisch.

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Die Scottsboro-Boys mit ihrem Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren, Samuel Leibowitz. Urheber unbekannt.

Um von ihren eigenen Vergehen abzulenken, behauptet Victoria, die Schwarzen hätten sie vergewaltigt. Eine medizinische Untersuchung kann diese Behauptung nicht stützen. Im Gefängnis identifizieren die Mädchen dennoch Clarence Norris, Charlie Weems, Roy Wright, Andy Wright, Ozie Powell, Willie Roberson, Eugene Williams und Olen Montgomery als Täter. Der jüngste unter ihnen ist 13 Jahre alt, die anderen zwischen 16 und 19. Alle werden zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Ruby sagt später aus, dass die Vergewaltigungen erfunden waren, Victoria bleibt bei ihrer Anschuldigung. Es schließt sich ein Rechtsstreit an, der sich über Jahre hinzieht. Zeugen werden gehört und wieder gehört, widersprechen sich selbst und anderen. Es wird festgelegt, dass der Staat Alabama auch Schwarze in der Jury zulassen muss und alle Fälle unter diesen Bedingungen neu verhandelt werden müssen. Die Medien reißen sich um den Fall, zwischen dem Norden und dem Süden der USA läuft ein tiefer Graben des Rassismus.

Für eine New Yorker Zeitung berichtet Alice Whittier über den Fall. Tatsächlich existiert hat sie nicht, im Gegensatz zu einem Großteil des übrigen Roman-Personals. In Feldmans Roman wird sie zur Vertrauten von Ruby Bates. Sie besucht sie in ihrem ärmlichen Haus, sucht das Gespräch mit ihr und kann das eingeschüchterte Mädchen dazu bringen, Vertrauen zu ihr zu fassen. Sie ist es auch, die zuerst erfährt, dass Ruby nicht vergewaltigt worden ist, sondern nur aus Angst ausgesagt hat. Für Alice steht fest, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun muss, um die zu Unrecht angeklagten Jungen vor der Todesstrafe zu bewahren. Im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten, die über den Fall berichten und sich dabei vor allem für die harten Fakten interessieren, macht Alice es sich zum Ziel, die Hintergründe der Mädchen zu erforschen. Sie will wissen, ob die beiden wirklich leichtfertig, nur um einer Strafe zu entgehen, das Leben von neun Jungen aufs Spiel setzen. Es wird eine Gratwanderung zwischen moralischer Überzeugung und der Aussicht auf ein einmalige Chance in ihrer noch jungen Karriere.

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Lisa McInerney: The Glorious Heresies

 McInerney_TheGloriousHeresies„You’d have to ask yourself what’s wrong with this country at all that it can’t stop birthing virtuous ould bags.“

The Glorious Heresies, auf Deutsch sowas die „die glorreichen Ketzereien“, war der Gewinner des diesjährigen Baileys Women’s Prize for Fiction. Der Roman spielt in Irland, genauer gesagt in der Stadt Cork, die auf offiziellen Fotos immer einen sehr hübschen und pittoresken Eindruck macht. Die handelnden Personen in dieser Geschichte sind zum Teil hübsch aber auf keinen Fall pittoresk.

Angesiedelt ist der Roman im kriminellen Milieu der Hafenstadt. Wichtigster Strippenzieher ist Jimmy, der seinen Lebensunterhalt im wesentlichen mit Drogenhandel und Zuhälterei bestreitet. Als uneheliches Kind durfte er nicht bei seiner Mutter Maureen aufwachsen, die er aber Jahrzehnte später ausfindig gemacht hat und die er nun in einem seiner ehemaligen Bordelle wohnen lässt. Dort erschlägt sie den Einbrecher Robbie mit, der erste Akt von Ketzerei in diesem Roman, einem heiligen Stein. Jimmy hat keine Lust auf Ärger mit den Gardai und überredet seinen alten Kumpel Tony Cusack mit ihm die Leiche zu beseitigen. Cusack macht mit, er kann das gezahlte Geld gut gebrauchen um seinen Alkoholismus und den Unterhalt von sechs Kindern zu bestreiten. Sein ältester Sohn Ryan allerdings finanziert sich mit Drogenhandel weitestgehend selbst. Eine seiner Stammkundinnen ist Georgie, eine Prostituierte aus Jimmys Umfeld, die in diesen Tagen verzweifelt nach ihrem Freund Robbie sucht. Und so schließt sich der Kreis.

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