Kopfüber ins Ungewisse – „Der Sprung“ von Simone Lappert

In Thalbach, einer recht verschlafenen Stadt in der Nähe von Freiburg, bahnt sich eines Sommertages ein Unglück an. Mitten im Zentrum steht eine junge Frau auf dem Dach eines Hauses. Die will springen, ist sich eine Anwohnerin sicher und verständigt die Polizei, die mit Aushilfs-Psychologe Felix und Verstärkung durch die Feuerwehr anrückt, um das Schlimmste zu verhindern. Schnell ist der Platz vor dem Haus dicht besiedelt von Schaulustigen, die Eis essen, Cola trinken, sich sonnen und neugierig abwarten, was wohl noch passieren wird.

Simone Lappert Der Sprung

Auch wenn sie nicht unbedingt zu den Gaffern gehören, sind doch etliche Menschen auf die eine oder andere Art von dem Ereignis betroffen. Felix, der nach nur einem Psychologie-Lehrgang die mögliche Suizidantin retten soll, Maren, die ihr Haus nicht betreten kann, weil eine Frau auf ihrem Dach steht, Winnie, die endlich eine Chance findet, in der Schule nicht mehr gemobbt zu werden. Sie und etliche andere werden von der Frau auf dem Dach berührt, werden an ihre Vergangenheit erinnert oder finden endlich den Mut, Dinge zu ändern. Während vor dem Haus alle gespannt abwarten, ob die junge Frau nun den einen entscheidenden Schritt in die Tiefe macht, sind am Boden einige schon viel weiter und stürzen sich – symbolisch – kopfüber ins Ungewisse.

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Einsam in Shirley Falls – „Amy and Isabelle“ von Elizabeth Strout

Isabelle Goodrow lebt mit ihrer Tochter Amy in der Kleinstadt Shirley Falls. Vor Jahren ist sie dort hingekommen, in der Hoffnung, einen Ehemann zu finden, nachdem Amys Vater jung verstorben ist. Bisher hat sie keinen Erfolg. Trotzdem wohnt sie immer noch in dem kleinen Haus, das sie als erstes gemietet hat, und das nur eine Übergangslösung sein sollte, bis sie mit ihrem neuen Partner zusammenziehen würde. Sie verdient ihr Geld in der Verwaltung einer Schuhfabrik, die der größte Arbeitgeber in der Stadt ist und in der sie es inzwischen zur Chefsekretärin gebracht hat. In genau diesen Chef ist sie heimlich verliebt, er aber macht keinerlei Anstalten, seine Ehe zu beenden.

Elizabeth Strout - Amy and Isabelle

Mit Tochter Amy hat sie derweil eine Menge Ärger. Sie pubertiert, hat Freundinnen, die auf einmal schwanger sind und raucht heimlich im Wäldchen hinter der Schule. Und als wäre das nicht schlimm genug, verliebt sich auch noch in ihren Mathelehrer Mr. Robertson, der sie mit auswendig gelernten Gedichten um den Finger wickelt. Wenn das ans Licht kommt, ist Isabelles Status in Shirley Falls endgültig am Ende. Seit sie in der Stadt wohnt, ist sie verzweifelt bemüht, in die „besseren Kreise“ zu kommen, engagiert sich in der Kirche und versucht, durch angemessene Lektüre ihre Bildung zu verbessern. Sie träumt davon, eines Tages unterhaltsame Dinner-Parties geben zu können, statt alleine auf dem Sofa zu sitzen. Auf ihre Kolleginnen im Büro, die zuviel essen, zuviel rauchen, und überhaupt keinen Sinn für Kultur haben, schaut sie ein wenig herab, würde das aber niemals offen zeigen. Zum Glück, denn nach und nach zeigt sich, dass gerade in diesen Frauen eine Menge Charakter steckt.

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Anne Tyler: Ladder of Years

Delia hat die Schnauze voll von ihrer Familie. Ihr Mann und ihre drei fast erwachsenen Kinder bringen ihr keine Wertschätzung entgegen und ihre gerade aufkeimende Affäre mit Adrian findet ein jähes Ende, nachdem er sich dann doch mit seiner Frau versöhnt. Während des gemeinsamen Sommerurlaubs, der jedes Jahr am gleichen Ort stattfindet, steht sie auf und geht, bekleidet nur mit Badeanzug und -mantel. Eine glückliche Fügung bringt es, dass auch die 500$-Dollar Urlaubskasse in ihrer Badetasche ist, was ihr zumindest eine kleine Starthilfe ist im nahen Städtchen Bay Borough, wohin sie ein Lastwagenfahrer mitnimmt.

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Sie findet Unterkunft bei einer Frau, die Zimmer vermietet und Arbeit bei einem Rechtsanwalt, der Mindestlohn zahlt. Nach ein paar Tagen erscheint eine Vermisstenanzeige der Polizei, in der nach ihr gesucht wird. Die vermissenden Familienmitglieder sind sich weder mit ihrer Haar- noch mit ihrer Augenfarbe sicher, was Delia in ihrem Entschluss bestärkt – sie bleibt in Bay Borough. Ihre Schwester taucht auf und fragt, ob ihr Mann sie schlage. Die Polizei taucht auf und fragt, ob der Aufenthalt in Bay Borough ihrem freien Willen entspreche. Delia wartet, dass auch ihr Mann Sam auftaucht, sie in die Arme und mit nach Hause nimmt. Es kommt nur ein Brief mit vorwurfsvollem Unterton. Also bleibt sie wo sie ist.

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