Das Abenteuer der relativen Freiheit – Esi Edugyans „Washington Black“

1818 wird auf einer Zuckerrohrplantage in Barbados der junge Sklave George Washington Black geboren. Er weiß, dass er von seinem Leben nicht viel zu erwarten hat. Doch überraschend wird er von Titch, dem Bruder seines Besitzers ausgeliehen, der an einem fantastischen „Wolkenkutter“ arbeitet, einem Luftschiff, für dessen Fertigstellung er Hilfe benötigt. In dem jungen Washington entdeckt er ungeahnte Talente und macht ihn schließlich zu seinem Assistenten. Für Washington bedeutet das einen ungeheuren Aufstieg. Er wohnt nicht mehr in den menschenunwürdigen Baracken bei den übrigen Sklaven, sondern schläft im eigenen Bett, trägt englische Kleidung und lernt Lesen und Schreiben. Aber er traut sich nie, sich auf seinen neugewonnenen Privilegien auszuruhen. Ihm ist völlig klar, dass der Absturz jede Sekunde kommen kann, denn so viele Freiheiten er in seiner neuen Position auch haben mag, wirklich frei kann er nie sein.

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So unwahrscheinlich der Erfolg auch scheinen mag, brechen Titch und Washington doch eines Tages im Wolkenkutter auf, landen an einer fremden Küste und Washington hält es das erste mal in seinem Leben für möglich, dass er nie wieder Zuckerrohr schneiden muss. Die Hoffnung auf eine Heimat allerdings ist damit für immer verloren. Sein ganzes Leben lang wird Washington nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe und seines sozialen Status das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.

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Emily St John Mandels „Station Eleven“

Georgien scheint weit weg zu sein, als die Nachrichten einer dortigen Grippe-Welle die USA erreichen. Ein besonders aggressiver Erreger der Schweinegrippe ist mutiert und befällt nun auch Menschen. Wer die ersten Krankheits-Symptome zeigt, hat noch 24 bis 48 Stunden zu leben, eine Heilung gibt es nicht, auch keine Impung. Als die erste Maschine mit Infizierten aus Moskau eintrifft, ist es schon lange zu spät. Die Seuche breitet sich rasant über den ganzen Kontinent, die ganze Welt aus und tötet fast alle, die auf ihr leben.

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Die wenigen, die es schaffen, hoffen noch einige Wochen auf Rettung und beginnen dann, in der völlig veränderten Welt ein neues Leben aufzubauen. Einige von ihnen finden sich in einer Art Wanderzirkus zusammen. Sie tingeln durch Kanada und den Norden der USA, tauschen Shakespeare-Stücke und Symphonie-Konzerte gegen Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Doch ihre Wege sind voller Gefahren. Die neue Gesellschaft ist auch zwanzig Jahre später noch im Aufbau, neue Siedlungen entstehen, andere brechen zusammen und nicht alle wollen ihren Lebensunterhalt mit ehrlichen Mitteln bestreiten.

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Im Zeichen des Konditional – „Unless“ von Carol Shields

Reta Winters ist eine zufriedenstellend erfolgreiche Autorin und Übersetzerin und lebt mit Langzeit-Partner und drei gemeinsamen Töchtern in einem hübschen Haus in der Nähe von Toronto. Neben ihrem Beruf findet sie ausreichend Zeit, sich ehrenamtlich in der örtlichen Bücherei zu engagieren und regelmäßig ihre Freundinnen zu treffen. Alles läuft also in geregelten Bahnen, bis ihre älteste Tochter Norah die Wohnung verlässt, in der sie gemeinsam mit ihrem Freund gewohnt hat, und fortan auf dem Bürgersteig sitzt, ein Schild mit der Aufschrift „Goodness“ um den Hals. Nachvollziehen kann diesen Akt niemand so richtig und Norah erklärt ihn nicht. Sie sitzt einfach da, schläft nachts in einer Obdachlosenunterkunft, für die ihre dankbaren Eltern großzügig spenden, und gibt ihr erbetteltes Geld an andere auf der Straße weiter. Immerhin keine Drogen, das ist der einzige Trost, den die Eltern haben.

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Die Abwesenheit von Norah bestimmt das gesamte Leben der Erzählerin und ihrer Familie. Oft besuchen sie die abtrünnige Tochter und sitzen neben ihr auf dem Bordstein. Alle Versuche aber, sie zu einer Rückkehr zu bewegen, scheitern. Norah schweigt und bleibt, wo sie ist. Reta belastet das nachvollziehbar stark und es fällt ihr immer schwerer, an dem Nachfolger ihres bisher einzigen Romans, My Thyme Is Up, zu arbeiten. Der brachte ihr vor einigen Jahren einigen Ruhm und einen Preis für den „zugänglichsten Roman des Jahres“, was immer noch ein bisschen an ihr nagt.

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Carol Shields: Larry’s Party

Laurence Weller, genannt Larry, geboren 1952 als Sohn britischer Einwanderer, wächst im ruhigen Winnipeg auf. Er benimmt sich vernünftig, kleidet sich ordentlich und arbeitet als Florist. Florist ist er eher zufällig geworden, einer von nur zwei männlichen Schülern im entsprechenden Kurs am College. Als er Ende zwanzig ist, lernt er Dorrie kennen und heiratet sie noch bevor man die Schwangerschaft sieht. Die Hochzeitsreise allerdings, eine Gruppenreise durch England, stellt sein Leben auf den Kopf. Interessiert an Pflanzen aller Art ist er begeistert von der Vielzahl der Hecken, die es entlang der Route zu sehen gibt. Der Irrgarten in Hampton Court ist eine Offenbarung für ihn. Entgegen der Absprache mit der Gruppe trödelt er lange in den grünen Gängen herum, bekommt Ärger mit seiner jungen Frau, aber hat auch für alle Zeiten sein Herz an dieses Element der Gartenbaukunst verloren.

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Kaum ist die junge Familie Weller mit dem verdächtig bald geborenen Sohn in ihr kleines Heim in Winnipeg gezogen, beginnt Larry, das Haus in einem Irrgarten zu verstecken. Geld und Zeit investiert er sehr zum Ärger von Dorrie nicht in die Renovierung des Badezimmers, sondern in den stetigen Ausbau seines ersten Irrgartens. Ein später angestrebter Umzug in ein größeres, schöneres Haus scheitert daran, dass er sein Herzensprojekt nicht einfach umpflanzen kann. Nach wenigen Jahren wird Larrys erste Ehe geschieden und er beginnt ein neues Leben als Irrgarten-Bauer in Chicago. Als einer von wenigen Spezialisten weltweit bringt er es mit seiner Firma A/MAZING Inc. zu einigem Ruhm.

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Heather O’Neill: Lullabies for Little Criminals

Lullabies for Little Criminals ist die Geschichte der zwölfjährigen Baby, die bei ihrem Vater Jules in Montreal aufwächst. Baby ist ihr wirklicher Name – ihre Eltern waren gerade fünfzehn, als sie geboren wurde, und hielten das für einen guten Namen. Ihre Mutter starb so jung, dass Baby sich gar nicht mehr an sie erinnern kann. Ihr Vater ist gerade Ende zwanzig, mit der Situation völlig überfordert und schwer drogenabhängig. Zusammen mit seiner Tochter zieht er von heruntergekommener Wohnung zu dreckigem Hotel und hält sich mit halbseidenen Gelegenheitsjobs über Wasser. Doch Baby ist zufrieden damit. Sie kennt es nicht anderes, es ist ihr Leben, und ihr Vater liebt sie aufrichtig. Zweimal lebt sie bei Pflegefamilien, während ihr Vater versucht, einen Entzug durchzustehen.

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Shakespeare: The Tempest – Margaret Atwood: Hag-Seed

1611 fertiggestellt und uraufgeführt ist „Der Sturm“ das letzte Stück, das Shakespeare vor seinem Tod fertigstellte. Es wird im allgemeinen zu seinen Romanzen gezählt. Was passiert, ist das:

The Tempest

In der ersten Szene erleidet Alonso, der König von Neapel, Schiffbruch durch einen plötzlich aufziehenden Sturm. Schuld daran ist Prospero, rechtmäßiger Herzog von Mailand, der vor 12 Jahren seinerseits durch eine Intrige seines Bruders auf einem entlegenen Eiland strandete, wo er seitdem mit seiner Tochter Miranda lebt. Prospero hat den Luftgeist Ariel dazu gebracht, einen Sturm aufziehen zu lassen. Und warum? Rache. König Alonso hat nämlich Prosperos fiesen Bruder Antonio dabei unterstützt, Prospero auszuschalten und seinerseits Herzog von Mailand zu werden. Zusammen mit Miranda und Prospero lebt noch Caliban auf der Insel, der missgestaltete Sohn einer Hexe, den Prospero zu seinem Sklaven gemacht hat. Prospero verfügt über magische Kräfte und kann Geister beschwören, vor allem eben den bereits erwähnten Ariel.

Mit an Bord des Schiffes war neben einer Menge Gefolge auch Alonsos Sohn Ferdinand. Der wird beim Schiffbruch vom Rest getrennt, stolpert orientierungslos über die Insel, trifft auf die schöne Miranda und macht ihr keine zehn Zeilen später einen Heiratsantrag. Auch Miranda ist hin und weg; nachdem sie ihre ersten 16 Jahre mit Vater und deformiertem Sklaven verbracht hat, erscheint Ferdinand ihr schön wie ein Engel. Allerdings wird es noch zwei Szenen dauern, bis die Verlobung wirklich stattfindet, man will ja nichts überstürzen. In dieser Szene aber, kurz vor dem Eintreffen Ferdinands, bezeichnet Prospero Caliban als „hag-seed“, falls sich jemand fragt, woher Atwood den Titel hat.

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Margaret Atwood: The Blind Assassin

Laura Chase war eine begnadete Autorin. Leider konnte ihr erster und einziger Roman The Blind Assassin erst posthum veröffentlicht werden. Bei einem tragischen Unfall verstarb sie mit gerade Anfang 20, aus dem Nachlass hat ihre Schwester Iris Chase Griffen den Roman veröffentlicht. Seitdem ist es an ihr, das schriftstellerische Erbe ihrer Schwester zu wahren und zu verwalten. Iris ist mittlerweile weit jenseits der 80, lebt wieder in ihrer Heimatstadt Port Ticonderoga und hat begonnen, ihre Memoiren zu verfassen. An einen Unfall hat sie keine Minute lang geglaubt, sie war sich immer sicher, dass Laura Selbstmord begangen hat. Nun schreibt sie über ihr Leben und das ihrer Schwester und versucht herauszufinden, an welchem Punkt alles entgleist ist.

„But in life, a tragedy is not one long scream. It includes everything that led up to it. Hour after trivial hour, day after day, year after year, and then the sudden moment: the knife stab, the shell-burst, the plummet of the car from the bridge.“

Die Familie Chase war über Generationen die Spitze der Gesellschaft im kanadischen Port Ticonderoga. Nach dem frühen Tod der Mutter wachsen die Chase-Schwestern beim Vater auf, unterstützt von der Haushälterin Reenie und einer wechselnden Reihe Hauslehrer. Doch während der Weltwirtschaftskrise in den 1920ern geht es auch mit den Chase-Fabriken bergab. Die einzige Rettung für Töchter und Vermögen sieht Iris Vater in einer Ehe zwischen Iris und seinem Geschäftspartner Richard Griffen. Wie schlimm soll es schon werden, fragt sich Iris und fragt sie Reenie. Viel, viel schlimmer, ist die Antwort. In Iris Retrospektive entspinnt sich langsam die Geschichte einer leidlich glücklichen Kindheit, gefolgt von einer Ehe, die von psychischer wie physischer Gewalt geprägt ist. Unterbrochen werden Iris Memoiren von einem weiteren Erzählstrang, in dem ein Mann einer Frau eine Geschichte erzählt. Eine ziemlich absurde SciFi-Geschichte, die später einmal ein Roman werden soll, die Geschichte eines blinden Mörders.

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Margaret Atwood: Alias Grace

In diesem Roman erzählt Atwood die Geschichte von Grace Marks. Grace war ein fünfzehnjähriges Dienstmädchen, das 1843 beschuldigt wurde, gemeinsam mit James McDermott, Angestellter im gleichen Haushalt, ihren Arbeitgeber Thomas Kinnear und dessen Haushälterin Nancy Montgomery ermordet zu haben. Anschließend sollen die beiden als Liebespaar in die USA geflohen sein, wo sie festgenommen wurden.

atwood_aliasgraceJames McDermott wurde zum Tode verurteilt, Grace Marks zu lebenslanger Haft, die sie zumindest zeitweise in der Psychiatrie verbrachte. Ein Kommitee zu ihren Gunsten versuchte über Jahre, ihre Freilassung zu erreichen. Die zeitgenössischen Quellen zu diesem Fall übertreffen sich gegenseitig in Sensationsgier und widersprechen sich zum Teil erheblich.

Aus den vorhandenen Quellen hat Atwood so gut es ging die Fakten destilliert und mit viel Fiktion einen Romanstoff daraus gemacht. Dazu hat sie Dr. Simon Jordan erfunden, einen jungen Arzt und Spezialisten auf dem noch jungen Gebiet der Psychologie. Im Auftrag von Graces Gönnern soll er herausfinden, was wirklich an den fraglichen Tagen geschah. Abwechselnd wird aus der Perspektive von Simon Jordan und Grace Marks erzählt. Der Einstieg in den Roman ist etwas zäh, denn Grace tut sich erst schwer damit, Vertrauen zu dem jungen Arzt zu fassen und ist zurückhaltend in ihren Berichten. Zudem benutzt sie zwar viel wörtliche Rede aber keinerlei Satzzeichen, die dies verdeutlichen würden, was das Lesen nicht leichter macht. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten aber gerät die Geschichte in Fahrt und Grace berichtet von ihrem Schicksal, das sie aus ärmlichen Verhältnissen in Irland in noch schlimmere in Kanada gebracht hat. Im Alter von 13 beginnt sie schließlich als Dienstmädchen zu arbeiten und gerät so in den Haushalt von Thomas Kinnear,  der ihr ein sehr sympathischer Dienstherr ist. Nancy Montgomery, seine Haushälterin, hat Grace angeworben und sie hofft, in ihr eine Freundin zu finden. Doch schnell erkennt sie, dass Nancy eifersüchtig über Thomas wacht und sehr empfindlich reagiert, wenn er Grace gegenüber zu nett ist, was das Verhältnis der beiden Frauen schnell und nachhaltig stört.

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Margaret Atwood: Lady Oracle

Joans Mutter wünscht sich eine hübsche, grazile Tochter, die zum Ballett geht, bei den Pfadfinderinnen beliebt ist und reizende Kleider tragen kann. Joan ist dick, hat keine Freundinnen und ihr Part bei der Ballettaufführung wird in letzter Minute gestrichen. Ihr Körper ist der Hauptschauplatz der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die es nicht schafft, wirkungsvoll einzugreifen, weder mit Bestechungen noch mit untergeschummelten Abführmitteln. Ihr Gewicht ist Joans Weg der Mutter zu zeigen, dass sie sie hasst und die wirkliche Machtposition innehat indem sie sich schlicht weigert, das repräsentable Töchterchen zu sein.

atwood_ladyoracleIhre einzige Freundin und Verbündete ist ihre Tante Louise, mit der sie eine Vorliebe für Liebesschnulzen und Essen teilt. Als Louise stirbt, hinterlässt sie Joan einen Großteil ihres Vermögens und eine zweite Identität – Joan unterschlägt die Geburtsurkunde und hat bald einen Pass, ein Konto und einen Autorenvertrag unter dem Namen Louise K. Delacourt. Zufällig hat Joan nämlich entdeckt, dass sie ein schriftstellerisches Talent für Kostümromanzen hat und davon ganz gut leben kann. Eher zufällig produziert sie dabei auch einen Gedichtband mit dem Namen Lady Oracle, das einzige Buch, das jemals unter ihrem richtigen Namen erscheint.

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David Foster Wallace: Unendlicher Spaß

unendlicherspass„Die Straße wird breiter und viele Umwege sind verlockend. Man muss notorisch konzentriert und wachsam sein.“

Lange ist mir keine Besprechung mehr so schwergefallen wie die für Unendlicher Spaß. Was will man denn auch noch groß drüber sagen, was nicht schon tausend mal gesagt worden ist? Es ist brillant. Es ist wirklich, wirklich brillant und eines der besten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Es ist auch eines der sperrigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Nicht nur wegen des Umfangs, mit knappen 1.550 Seiten könnte man ja noch arbeiten, aber ein Zehntel davon sind Fußnoten und Fußnoten zu Fußnoten, was mich stellenweise an den Rand des Wahnsinns getrieben hat. An wenigen Abenden habe ich mehr als 30 Seiten geschafft, an freien Tagen ein kleines bisschen mehr und so hat mich dieses Buch gute zwei Monate lang begleitet, während zehn andere Bücher an ihm vorbeigezogen sind. Ebenfalls in dieser Zeit begleitet hat mich eine schematische Darstellung aller Charaktere des Romans, die mir eine Kollegin auf 16 A4-Seiten gedruckt hat, nachdem ich versucht hatte, ihr zu erklären, worum es eigentlich geht. Die Darstellung hing ein paar Wochen lang krude zusammengeklebt über meinem Bett.

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