Das grausame Ende einer ganzen Welt – „So war’s eben“ von Gabriele Tergit

Tergit nimmt sich in ihrem dritten großen Gesellschaftsroman einiges vor. Sie portraitiert die jüdische Berliner Gesellschaft in Ost- und Westberlin, ihre Glanzzeit, ihre Verfolgung, das Elend und das Exil. Mehr als 70 Personen sind in den Dramatis Personae I und II aufgelistet: Die Familien Stern und Kollmann, Mayers und Jacobys, der deutsche General von Rumke und ein buntes Gemisch aus „Figuren am Rande“. Aufstrebende Journalistinnen tummeln sich in ihren Reihen neben etablierten Regisseuren, feinen Damen und angehenden Revolutionären, Internationalisten und Erzkonservativen.

Der Roman beginnt noch während des Kaiserreichs mit dem Kapitel „Damentee in den neunziger Jahren“. Wie auch bei den Effingers besteht Tergits Romanpersonal zunächst vor allem aus der „feinen Gesellschaft“, die von der Autorin mit einem deutlichen Augenzwinkern charakterisiert wird. Die familiären und gesellschaftlichen Verflechtungen sind das wichtigste in diesen Kreisen und das ganze Streben der Frauen gilt dem guten Eindruck. Während die Männer Karriere machen, ist der gesellschaftliche Teil ihr Beitrag zum Erfolg der Familie. Ein verpatzter Damentee ist da schon höchst blamabel. Dass einige von ihnen in absehbarer Zeit Teile der mondänen Wohnungen vermieten müssen, um sich auch nur über Wasser halten zu können, ahnt da noch niemand. Doch längst nicht alle schweben durch diese erlauchten Kreise. Tergit schildert nicht nur das Leben der reichen, sondern auch der ganz bescheiden und ganz durchschnittlich lebenden Familien der Zeit, mit all ihren Brüchen, Hoffnungen und Sorgen.

Weiterlesen

Irmgard Keun: Kind aller Länder

kindallerländer„Wir sind in die allgemeine Freiheit gewandert. Nach Deutschland gehen wir nie mehr zurück. Das brauchen wir nicht, denn die Welt ist sehr groß.“

Irmgard Keun ist wieder da! Mich freut das sehr und ich weiß, dass es einige von euch auch sehr freuen wird. Kind aller Länder ist (unverständlicherweise) eines der wenigen von Keuns Büchern, das überhaupt mehrfach neu aufgelegt wurde, die letzte Ausgabe ist aber auch schon wieder 10 Jahre alt und inzwischen vergriffen.

Es ist die Geschichte von Kully, Tochter eines Schriftstellers, der sehr an Keuns Sommerliebe Joseph Roth erinnert, den sie 1936 im Ostender Exil kennengelernt hatte. Wegen seiner regimekritischen Äußerungen muss der Schriftsteller samt Frau und Kind Deutschland verlassen und findet Exil in Belgien, Frankreich und den Niederlanden. Überall hofft er, Unterstützung zu finden, Verleger, die etwas für ihn tun können, Geldgeber für Zeitschriftenprojekte. Doch immer wieder werden seine Hoffnungen zerschlagen, niemand weiß, wie die Hotelzimmer bezahlt werden sollen oder die Rechnungen im Restaurant und das Visum ist auch nicht mehr lange gültig.

Erzählt wird die Geschichte von Kully, die dem Roman mit ihrer kindlichen Erzählweise den Charme verleiht. Ihr Alter wird, soweit ich weiß, nie genannt, sie müsste aber irgendwas zwischen sieben und zehn sein. Anders als ihre Eltern erlebt sie das Exil nicht als stressige und existenzbedrohende Außnahmesituation, sondern als ein großes Abenteuer. Sie freut sich, so viele Kinder zu treffen und verschiedene Sprachen zu lernen. Die Fehltritte ihres Vaters, die ständige Unzuverlässigkeit und die Affären, nimmt sie nicht als Fehler wahr oder verzeiht sie schnell. Nur die Traurigkeit und Wut ihrer Mutter, die aus deren Hilflosigkeit und ständiger Sorge erwächst, bedrücken sie manchmal. Sie sorgt sich um sie, wenn sie vor lauter Sorgen wieder einmal nicht schlafen kann. In ihrem jungen Alter hat Kully schon in Deutschland, Polen,  Österreich, Frankreich, Belgien und den Niederlanden gelebt, hat Italien gesehen und soll sogar noch nach Amerika. Als sie gefragt wird, ob sie manchmal Heimweh habe, weiß sie nicht, was dieses Gefühl ist. Nur manchmal sehnt sie sich nach einem besonders schönen Strand oder einer Wiese, an deren Blumen sie sich erinnert. Als Heimat begreift sie ihre Familie, nicht einen bestimmten Ort.

Mit der Stimme von Kully führt Keun eine interessante Perspektive in die Exilliteratur ein. Sonst sind vor allem Erchwachsene die Protagonisten, die das Exil primär als Notsituation erleben. Das Leben im Ausland ist kein Wunsch sondern eine Notwendigkeit und ein Zustand, der mit vielen Entbehrungen und großer Unsicherheit verbunden ist. Das Kind, das diesen Roman erzählt, ist hingegen fasziniert von den Möglichkeiten die sich ihm bieten, wenn es eben nicht immer an einen Ort gebunden ist. Die kindliche Erzählperspektive ist keine einfache und in vielen Romanen schlägt sie ins süßlich-kitschige oder unerträglich naive um. Keun aber gelingt es, den Ton glaubwürdig zu halten und hat einen sehr lesenswerten, liebenswerten Exilroman geschrieben, dessen Traurigkeit und Melancholie gerade über die Unwissenheit der Erzählerin transportiert wird.


Irmgard Keun: Kind aller Länder. Kiepenheuer & Witsch 2016. 214 Seiten, € 17,99. Erstauflage: Querido 1938.