Der Sound des letzten Sommertags – „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ von Christian Huber

Nur einen einzigen Tag, den 31. August 1999, lässt Huber seinen Protagonisten Krüger durchleben. Aber der hat es in sich. Immerhin ist es der letzte Tag des Sommers, vielleicht sogar der letzte Tag des letzten Sommers den die Menschheit erleben wird, denn wer weiß, wie die Jahrtausendwende laufen wird. Obwohl Krüger seine Sommerferien sonst am liebsten zu Hause vor dem Fernseher verbringt, lässt er sich an diesem Tag von seinem besten Freund Viktor überreden, Bett und Haus zu verlassen. Dass dieser Tag einer der ereignisreichsten seines Lebens sein wird, kann er da noch nicht ahnen.

„Aber ob Zukunft oder Ende der Welt, Hauptsache, irgendetwas passierte.“

Dabei fängt alles so normal an: Viktor beim Verteilen der lokalen Gratiszeitung helfen, ein bisschen mit dem BMX rumfahren, dann beim Müller Tony Hawk „ausprobieren“ bis der Filialleiter was sagt. Doch dann wird plötzlich Krügers Rucksack geklaut und das ausgerechnet vom schönsten Mädchen der Welt, das feuerrote Haare hat, keine Angst kennt und morgen schon nicht mehr da sein wird. Jacky heißt die mysteriöse Gestalt mit den himmelblauen Augen, in die Krüger sich nicht verlieben kann, weil niemand ihn je berühren darf. Er hat so große Angst, dass jemand seinen Oberkörper sieht oder auch nur berührt, dass er selbst bei größter Hitze zwei Shirts übereinander trägt und seit Jahren nicht mehr schwimmen war. Dabei hat er das früher gerne gemacht. Aber seit er für seine Aussehen in der Jungs-Umkleide ausgelacht wurde weiß er, dass er schrecklich entstellt ist und auf keinen Fall jemals wieder oberkörperfrei gesehen werden darf. Doch auch mit zwei Shirts übereinander lässt sich einiges erleben. Zu dritt ziehen Viktor, Krüger und Jacky los mit dem ehrgeizigen Ziel, Einlass bei der coolsten Party der Stadt zu kriegen, eine legendäre Hanf-Plantage zu finden und vor allem den letzten Tag des Sommers nicht zu verschwenden.

Huber lässt seine Figuren den letzten Sommer der 90er-Jahre erleben und er lässt keine Chance aus, das Zeitgefühl aufleben zu lassen. Die Charts des Monats spielen im Roman rauf und runter (inklusive einer eigenen Playlist), Krüger trägt Casio und Eastpak und das Nokia 3210 ist das neuste Modell auf dem Markt. Manchmal klingt das fast ein bisschen zu gewollt und so, als wolle der Autor auch dem letzten Leser noch ein nostalgisches „Ach ja, damals“ entlocken. Bei einigen Passagen war ich mir allerdings ziemlich sicher, dass das „damals“ nicht so war – „da bin ich fein mit“ beispielsweise war 1999 noch weit von meinem Sprachgebrauch entfernt, aber wer weiß, wie was andernorts war. Und dass der Spot für Frufos im gleichen Werbeblock läuft wie die für 0190-Nummern ist jetzt auch nicht auf den ersten Blick schlüssig. Das sind Details, aber sie erzeugen Dissonanzen im Sound der 90er, von dem der Roman entscheidend getragen wird.

Viel schwerwiegender aber ist das chaotische letzte Viertel des Romans. Aus der ganz leicht abenteuerlichen Jugendgeschichte deren versöhnliches Ende sich schon abzuzeichnen beginnt, wird innerhalb weniger Seiten eine wilde Kleinstadt-Gangster-Geschichte, in der die Gesetze der Straße die der Physik und Wahrscheinlichkeit mühelos ausstechen. Viktor, Krüger und Jacky geraten in einen haarsträubenden Showdown, der dann doch zu einem guten Ende führt. Zu gut fast, denn das Ende kann sich nicht freimachen von einer gewissen Poesiealbums-Sanftmut, die allerdings gar nicht so schlecht zur Epoche passt.

Man vergisst nicht, wie man schwimmt könnte ein netter Jugendroman aus der Kleinstadt sein, eine charmante Coming-of-Age-Geschichte, die vielleicht ein bisschen wild wird. Auch das war ja in den späten 90ern gar nicht unerfolgreich. Der Roman will aber mehr sein, will rebellieren und raus aus der Kleinstadt, ohne dass man so richtig versteht, was er stattdessen sein will und wo er hin will mit seiner Geschichte. Und so stabil, dass man ihm das verzeiht, trägt der Beat von Right Here, Right Now dann auch wieder nicht.


tl;dr: Der Roman beginnt als smarte Jugend- und Freundschaftsgeschichte mit Sommerliebe-Potenzial, kippt dann aber in eine chaotische Gangster-Geschichte, die weder richtig Anschluss zum Vorhergehenden findet noch ein zufriedenstellendes Ende. Das rettet auch der gut komponierte 90er-Soundtrack nicht, der dem Roman zu Beginn noch so viel Schwung verleiht.


Christian Huber: Man vergisst nicht, wie man schwimmt. dtv 2022, 400 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 45.

6 Gedanken zu “Der Sound des letzten Sommertags – „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ von Christian Huber”

      1. Haha, das kenne ich natürlich auch. In Sachen Optik und Bequemlichkeit wurde es immer dann ganz besonders schlimm, wenn die obere Lage enger geschnitten war als die untere.

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  1. Habe in das Buch hinein gelesen und dann aufgehört. Die Sprache schien mir nicht vielversprechend genug, die Untiefen des Coming-of-Age auszuloten, aber sicher sein, kann man sich ja nie. Deine Rezension bestärkt mich in diesem Eindruck eher. Ich habe das Gefühl, dass das Buch auf der Benedict-Wells-Welle mitschwimmt, die mich aber auch schon lange abgehängt hat. Ich lümmle lieber am Strand und starre hinter vorgehaltener Hand in die Sonne! Viele Grüße!

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