Die unerträgliche Banalität des Seins – „Die Idiotin“ von Elif Batuman

Als Selin das erste Mal die heiligen Hallen von Harvard betritt, ist sie völlig überfordert. Hier anstellen, da anstellen, hier eine Mail-Adresse zugeteilt bekommen, dort für Kurse einschreiben. Beistand findet sie bei ihren Mitbewohnerinnen Hannah, die sie mehr mag und Angela, die sie weniger mag. Sie belegt Kurse in Linguistik, darstellender Kunst und Russisch, wo sich alle russische Namen aussuchen müssen, außer Svetlana und Ivan, dem ungarischen Mathematik-Studenten, in den Selin sich sofort und unglücklich verliebt. Sie schreibt Mails im Computer-Labor, findet spannende Ähnlichkeiten zwischen Ungarisch und Türkisch, isst in der Cafeteria und grübelt über der Sapir-Whorf-Hypothese. Und daraus besteht der gesamte erste Teil des Romans.

„Ich wusste nicht, wie man in eine andere Stadt zog oder Sex hatte oder einen richtigen Job oder wie ich jemanden dazu bringen sollte, sich in mich zu verlieben, oder wie ich etwas lernen sollte, das nicht nur meiner persönlichen Weiterentwicklung diente.“

S. 339/347

Im zweiten Teil reist sie immerhin mit Svetlana aus dem Russisch-Kurs nach Paris, wo sie in der Wohnung einer offenbar reichen Tante Svetlanas direkt gegenüber dem Musée d’Orsay wohnen und an der Seine joggen gehen. Montmartre ist ihr zu aufregend. Im weiteren Verlauf des Sommers reist Selin nach Ungarn, weil Ivan es auch tut. Damit das weniger auffällt, nimmt sie an einem Programm teil, im Rahmen dessen sie Englischunterricht für die Landbevölkerung geben soll. Dieser Teil des Romans, in dem Selin viele und sehr unterschiedliche Kontakte knüpft, und skurrile Situationen erlebt, ist alles, was den Roman aus der völligen Bedeutungslosigkeit rettet. 

Der gesamte erste Teil des Romans ist eine gut beobachtete und sehr humorvoll geschilderte Beschreibung der Überforderung Selins mit dem College-Alltag. Mehr aber eben auch nicht. Wer schonmal eine Universität besucht hat, wird sich vermutlich sehr an die eigenen ersten Tage dort erinnert fühlen, wer dort war, um Linguistik zu studieren und Russisch zu lernen, erst recht. (Und damit meine ich mich. Ich musste mir auch einen neuen Namen für den Kurs aussuchen, hieß drei Jahre lang einmal in der Woche Mascha und spreche heute kaum ein Wort Russisch). Über diese nette Erinnerung und das Wiederkennen der Situationen aber geht der Roman kaum hinaus. Selin, frisch von der Schule, macht keine bedeutsame Entwicklung durch und hat keine bemerkenswerten Erkenntnisse. Man kann es auch kaum von ihr erwarten. Dennoch stellt sich die Frage, was an dieser Geschichte eigentlich erzählt werden soll. Über weite Strecken hatte ich den Verdacht, dass Batuman der Social-Media-Generation den Spiegel vorhalten will und sagen „Seht, so banal ist das, was ihr erlebt! Das interessiert doch echt niemanden!“ Aber ich glaube, das ist es nicht, ich glaube sie erzählt einfach wirklich diese völlig austauschbare Geschichte. Dass der Roman über weite Strecken wahnsinnig langweilig ist, hängt immerhin nicht an Batumans Stil, denn der ist locker und charmant, im Gegensatz zur Protagonistin des Romans.

Selin ist ausgesprochen privilegiert, was ihr auch bewusst ist, und bewegt sich sehr behütet durch die Welt. Selbst bei ihren Reisen durch Europa ist immer jemand an ihrer Seite, der alles arrangiert und sich kümmert. Fast alle Menschen, denen sie begegnet, sind freundlich, aufgeschlossen und zugewandt. Für Abenteuer, Komplikationen und Entwicklung bleibt da kein Raum und keine Möglichkeit. Einzig das Scheitern der Kommunikation bleibt zu entdecken, befeuert auch durch die linguistischen Erkenntnisse, die sie in ihrem ersten Semester gewinnt. Naiv und wohlerzogen tastet sie sich in die Welt voran, und wäre doch so gerne unkonventionell. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Das immerhin erkennt sie selbst.  


tl;dr: Stilistisch ganz charmanter aber leider völlig handlungs- und erkenntnisarmer Roman. Man fragt sich sehr ernsthaft, was hier erzählt werden sollte.


Elif Batuman: Die Idiotin. Übersetzt von Eva Kemper. Fischer 2018, 480 Seiten. Gelesen als eBook mit 347 Seiten. Originalausgabe: The Idiot. Penguin 2017.

Batuman war mit diesem Roman 2017 für den Women’s Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.

20 Gedanken zu “Die unerträgliche Banalität des Seins – „Die Idiotin“ von Elif Batuman”

    1. Danke für den Hinweis! Dass Batuman Slavistin ist, wusste ich gar nicht. Aber es erklärt die thematischen Schwerpunkte in „Die Idiotin“.

      Like

  1. Endlich mal jemand, der das StudentInnenleben in seiner ganzen unausgegorenen Banalität beschreibt. Von wegen „time of your life“. Da komme ich mir mit meinen eigenen Erinnerungen nicht mehr so allein vor. Aber lesen würde ich es nach deiner Kritik nicht mehr wollen. Die Geschichte kenn ich ja schon. 😉

    Gefällt 3 Personen

      1. Hab den Beitrag auf deiner Seite gelesen, kann ihn aber dort nicht liken. What a hell of a story. Klingt nach Bürgerkrieg. Ich hab meine Nachtschicht bei der Polizei als Rechtsreferendar in Mosbach am Neckar gemacht. Keine Verfolgungsjagden, aber gelangweilte Polizisten, die betrunkene polnische Arbeiter drangsalierten, die von der Nachtschicht im Atomkraftwerk kamen. Gelernt habe ich: Man darf der Polizei nicht so viel Macht geben und muss ihr ständig auf die Finger schauen, sonst verwenden sie ihre Macht gegen die, die sich nicht wehren können. Seit „black lifes matter“ lernt man das auch langsam in den USA – hoffentlich.

        Gefällt 1 Person

        1. Ah, ein Kollege!

          Meine Referendariatspolizeifahrt war in Amberg, das ist da, wo sich die Polizisten bei Hausdurchsuchungen freuen, wenn sie ein paar Gramm Gras finden.
          Und ich erinnere mich sehr unschön an die Kommentare, als wir auf Streife an der Synagoge vorbei fuhren: „Heutzutage wird ja jede Hakenkreuzschmiererei als politisches Delikt behandelt. Dabei sind es doch meist nur übermütige Jugendliche.“
          Ach ja, und dann Jugendschutzkontrollrazzia in den Kneipen, weil sonst nichts zu tun war.

          Deiner Lehre schließe ich mich an, aber ich fürchte es gibt in Deutschland, in Amerika und überall auf der Welt noch viel zu viele Menschen in der bürgerlichen Mittelstandsblase, die nie mit der Polizei in Kontakt kommen und denken, dass deren Handeln schon immer seine Richtigkeit habe.

          Gefällt 1 Person

      2. Nein, das klingt wirklich nicht nach einem Buch, das man unbedingt gelesen haben muss… Vielleicht, wenn man überlegt, ob man ein Studium anfangen will oder nicht? Ich habe nach der Schule erstmal eine Ausbildung zur Sortimentsbuchhändlerin gemacht, dann ein paar Jahre gearbeitet und DANN überlegt, ob ich nicht noch studieren will. In der Phase hätte mich das Buch vielleicht interessiert.

        Gefällt 2 Personen

    1. Genau das dachte ich auch – die Geschichte ist gar nicht so schlecht, aber ich hab sie schon bei 20 WGs-Partys gehört. Teile davon erzähl ich dir notfalls auch selber 🙂

      Gefällt 1 Person

  2. Du hast auch Russisch studiert? Das hatte ich gar nicht mitbekommen…
    Wieso musstest du dir einen Namen aussuchen? Das musste ich nicht. Bist du sicher, dass du nicht ausversehen irgendeiner Orthodoxen Kirche beigetreten bist?

    Like

    1. Studiert habe ich es nicht. Ohne Latinum brauchte ich in meiner Fachkombi aber noch eine Fremdsprache und bis ich das gemerkt habe, war nur noch was in Koreanisch und Russisch frei. Also habe ich Russisch genommen und es war exakt die Katastrophe, die man erwartet hätte. Was die Sprache angeht zumindest.
      Ich habe ein C1-Zertifikat, das ich nirgends angebe, weil es nur in Peinlichkeiten enden würde, kann aber mit Inbrunst „Was für schöne Sehenswürdigkeiten!“ ausrufen. Wenn ich Russisch höre, verstehe ich fast kein Wort. Es war aber ein sehr netter Kurs und mit einigen daraus bin ich bis heute befreundet, also hat es sich schon gelohnt. Außerdem kann ich grammatikalisch korrekte Trinksprüche bilden und muss nicht peinlich Nasdrowje! brüllen, wie so ein Anfänger.
      In diesem Sinne: какие красивые достопримечательности!

      Gefällt 1 Person

      1. Ach und was den Namen angeht – gute Frage! Ich hab ja die Hälfte nicht verstanden und habe einfach oft genickt, also bin ich jetzt vielleicht doch Mitglied irgendeiner Ostkirche geworden, die mich als Mascha, die Unverständige führt. Geschadet hätte es mir bisher nicht.

        Gefällt 1 Person

      2. Haha 😀
        Ich hab glaube ich gar kein Zertifikat, dabei hab ich alle Scheine gemacht bis auf den offiziellen Abschluss. Wie bei allem. kA ob sich da nicht doch ein Äquivalent rausquetschen lassen könnte… Lesen kann ich es ganz gut (ich zwinge mich auch jedes Jahr 1 Buch im Original zu lesen), Verstehen kommt sehr auf Sprechtempo und Thema an. Sprechen… naja, ich war immer sehr betrunken, wenn ich das ernsthaft versucht hab… In meiner Erinnerung hat das gut funktioniert 😀 Das letzte Mal ernsthaft ist ca 10 Jahre her.

        Aber zurück zum eigentlichen Skandal: Wieso durftest du dir einen Namen aussuchen und ich nicht 😦 ?

        Like

        1. Naja, aussuchen… Frau Antonova hat gesagt, sie sagt jetzt Mascha und Frau Antonowa wirkte nicht wie eine Person, die unbedingt diskutieren möchte, also habe ich genickt und ja gesagt, wie so oft, und das war es dann. Es gab nur ein paar, die ihre Namen aussuchen durften, weil es im Russischen kein direktes Äquivalent gab.

          Gefällt 1 Person

            1. Die hat in Mainz studiert, war ja aber nicht nett. Also sicher nicht die gleiche. Ich habe aber alles sonst über sie vergessen, was dir ein Anhaltspunkt sein könnte.

              Gefällt 1 Person

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.