Der Bauchredner in Pauline Melvilles Roman erzählt eine Geschichte, die in südamerikanischen Volksmythen eine häufige ist: Mond und Sonne sind Geschwister, der Mond der Bruder, die Sonne die Schwester. Tag für Tag jagen sie einander über den Himmel, bis sie bei einer Sonnenfinsternis in einem inzestuösen Akt vereint werden. Diesen Mythos nimmt Melville als Ausgangspunkt, um die Geschichte einer außergewöhnlichen Familie zu schildern.

In Guyana siedelt sie die Familie McKinnon an, die ihren Namen von einem schottischen „Freidenker“ hat, der sich in der Rupununi-Savanne angesiedelt und eine Familie gegründet hat. Über drei Generationen hinweg wird die Geschichte dieser Wapisiana-Familie erzählt, deren Untergang mit der Liebesbeziehung zwischen den Geschwistern Beatrice und Danny beginnt, den Kindern des Schotten. Zur Zeit der Sonnenfinster 1919 beschließen die beiden, fortan als Mann und Frau zu leben und tauchen unter in den Weiten des Hinterlandes von Guyana. Noch viele Jahre später leidet ihre Schwester Wifreda an den Folgen dieser Beziehung, die sie als Verrat empfindet. Im hohen Alter reist Wifreda noch einmal in die Hauptstad Georgetown, wo sie sich einer Operation unterziehen muss. Begleitet wird sie von ihrem Neffen Chofy, der prompt seine Familie vergisst und ebenfalls eine gefährliche Affäre beginnt. Er verliebt sich in Rosa, die nach Guyana gekommen ist, um auf den Spuren Evelyn Waughs zu wandeln.
Rosa Mendelson preferred a degree of orderliness and rationality in her life. Soon after her arrival in Guyana she was warned by other guests to prepare for life without either.
Die Autorin selbst entstammt einer guyanischen Familie mit indigen und europäischen Wurzeln. In ihrem ersten Roman lässt sie die beiden Welt ungebremst aufeinander prallen. Die Wapisiana schildert sie als zurückgezogen und autark lebendes Volk, das allerdings durch europäische und US-amerikanische Einflüsse stetig bedroht ist, sowohl in seiner Kultur als auch durch den Verlust des Lebensraums. Father Napier kommt die undankbare Aufgabe zu, als Missionar in schwarzer Kutte durch die glühend heiße Savanne zu streifen und Heiden zu bekehrend. Für jeden kulturellen Unterschied ist er blind. Während er allerdings immerhin noch um das Seelenheil seiner desinteressierten Schäfchen besorgt ist, rücken internationale Firmen nur um des Profites Willen immer weiter in das Gebiet der Wapisiana vor. In der Gegend soll es Öl und Erdgas geben. Das ist Grund genug für Probesprengungen, die Teile des Siedlungsgebietes zu zerstören drohen. Auch die junge Liebe zwischen Rosa und Chofy ist durch das internationale Ungleichgewicht belastet. Trotz Sozialisation an der englischen Privatschule scheint es völlig undenkbar, dass der Mann aus der Savanne ein Leben in England führen kann.
Die Atmosphäre des Romans ist drückend und unheilschwanger. Über allem scheint ein Schatten zu schweben, düstere Vorahnungen begleiten jeden Schritt der Figuren. Melville spielt dabei auch bewusst und gekonnt mit Klischees über die mysteriösen Tropen und ihre undurchschaubaren Bewohner. Gekonnt verwebt sie diese mit mystischen Elementen und Erzählungen aus der Folklore der indigenen Bevölkerung. Dass nichts in diesem Roman der Wahrheit entsprechen muss, macht schon der Einstieg deutlich: Bevor es losgeht, lernt man einen begabten Bauchredner kennen, der sich als Erzähler der Geschichte zu erkennen gibt. Er berichtet, in welch großer Tradition er steht und wie wichtig ihm und seiner Familie die mündliche Weitergabe von Geschichten stets war. Unumwunden gibt er allerdings zu, dass Variation ihm mehr bedeutet als die Wahrheit. Das allerdings war dann auch schon der größte Auftritt des titelgebenden Künstlers – den Rest des Romans über kann man ihn fast vergessen und nur am Ende bekommt er noch eine Chance, sich zu verabschieden.
Melville schildert Natur und Umgebung des Romans bildreich und in Teilen poetisch bis beinahe märchenhaft. In all der Mystik verläuft der Roman sich zuweilen allerdings etwas. Die Familientragödie ist dann doch nicht tragisch genug, um die Geschichte die ganze Zeit zu tragen auf ihrem beschwerlichen Weg quer durch die Savanne, den Fluss hinab und bis nach Georgetown. Mitunter verliert sie sich und es bleibt immer eine Distanz zu den Figuren. Besonders die älteren Generationen scheinen eher die Rollen zu füllen, die das Universum ihnen zugedacht hat, als ihren eigenen Weg zu gehen. Vielleicht ist das dann doch dem listigen Bauchredner geschuldet, der die Geschichte seinem Publikum vor allem als unterhaltsame Legende verkaufen will.
tl;dr: In The Ventriloquist’s Tale arbeitet Melville mit einem Motiv, das in der südamerikanischen Folklore häufig ist: der Inzucht zwischen Schwester und Bruder, die ihr Abbild in der Sonnenfinsternis findet. Darauf aufbauend schildert sie das Leben einer Wapisiana-Familie über drei Generationen. Der Roman ist gelungen komponiert, verläuft sich aber manchmal ein wenig in der eigenen Mystik.
Pauline Melville: The Ventriloquist’s Tale. Bloomsbury 1998. 368 Seiten. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Der Bauchredner bei Kindler erschienen.
Das Zitat stammt von S. 43.
Mit diesem Roman war Melville 1998 auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Achso, „KoSmisch“. Hab die ganze Zeit gegrübelt, was daran komisch sein soll XD .
(Du hast das s nicht vergessen, ich hab es überlesen)
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Exakt darüber bin ich jedes mal gestolpert, wenn ich die Überschrift in meiner Beitragsübersicht gesehen habe. Und jedes mal dachte ich „nee, lass mal so, das fällt sonst keinem auf“. Tja.
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Ich bin da aber auch sehr speziell. Ich denke schon gut mein halbes Leben darüber nach, ob die Welt nicht besser wäre, wenn die Astrophysik sich statt mit kosmischer mit komischer Hintergrundstrahlung beschäftigen würde…
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