Diplomatische Mission im ewigen Eis – „Die linke Hand der Dunkelheit“ von Ursula K. Le Guin

Genly Ai, Gesandter einer interplanetaren Ökumene, wird zu einem entlegenen Planeten gesandt, dessen Länder er als Teil eben dieser Ökumene gewinnen soll. Der Planet, in der Sprache seiner Bewohner*innen Gethen genannt, ist für Ai ausgesprochen lebensunfreundlich. Es ist eigentlich immer kalt und es fallen unglaubliche Mengen Schnee. Für den Winter gibt es gesonderte Eingänge, drei Meter über dem Boden, denn so hoch liegt dann der dicht gepackte Schnee und die normalen Haustüren werden nutzlos. Große Teile des Planeten sind von einem ewigen Gletscher bedeckt. Die Nahrung ist karg und wenig abwechslungsreich.

Die Bewohner*innen des Planeten sind den Menschen des Planeten Erde sehr ähnlich, ihre Regungen und Bedürfnisse entsprechen im Kern jenen des Botschafters Ai. Doch einen ganz entscheidenden Unterschied gibt es doch: sie haben keine zwei biologischen Geschlechter. Ihr Geschlecht interessiert sie auch gar nicht, abgesehen von wenigen Tagen im Monat, der sogenannten Kemmer. In dieser Zeit nehmen sie ein Geschlecht an, das aber jedes mal ein anderes sein kann. So können alle Bewohner*innen Kinder zeugen und gebären, monogame Beziehungen sind bekannt, aber ausgesprochen selten. Ai, immer männlich und immer im Kemmer-Zustand, wird ausgesprochen argwöhnisch beäugt und gilt einigen als pervers. Seine Überforderung mit der ambivalenten Geschlechtlichkeit der Gethen-Bevölkerung ist allerdings auch deutlich spürbar. Er weiß nicht, wie er sie bezeichnen soll und legt sich schließlich aufs generische Maskulinum fest, stellt aber ständig auch „männliche“ und „weibliche“ Eigenschaften fest, wo keine sein können. Als der König von Karhide schwanger wird, ist es ganz um seine Kategorisierung geschehen. Für die Lesenden ist es natürlich auch nicht ganz leicht, mit dieser Sprache aus den bekannten Bildern auszubrechen. Wird eine Person immer als „er“ bezeichnet, hat man natürlich auch einen „er“ vor Augen, auch wenn hin und wieder darauf hingewiesen wird, dass es eben keine ständigen Geschlechter gibt, weder biologisch noch gesellschaftlich.

„Diese Menschen, weder Mann noch Frau, keines von beiden und doch beides, zyklusabhängig, mondabhängig, sich verwandelnd bei der Berührung einer Hand, Wechselbälger in der Wiege der Menschheit – diese Menschen waren nicht Fleisch von meinem Fleisch, waren für mich keine Freunde: Zwischen uns konnte keine Liebe sein.“

Bereits 1969 erschienen, gilt der Roman als eines der ersten feministischen SciFi-Werke überhaupt. Le Guin selbst bezeichnet Die linke Hand der Dunkelheit als Gedankenexperiment: wie kann eine Gesellschaft funktionieren, in der Geschlecht keine Rolle spielt, und in der auch Sexualität nur in einem äußerst begrenzten Rahmen von Bedeutung ist? Welche Macht- und Kontrollstrukturen treten an ihre Stelle? Das wird selbstverständlich nicht so trocken geschildert, wie die Theorie klingt. Ursula K. Le Guin hat einen spannenden, runden SciFi-Roman geschrieben, der allerdings deutlich auf das Zwischenmenschliche abzielt. Besonders die Beziehung, die sich zwischen Genly Ai und dem vermeintlichen Verräter Estraven entwickelt, wird ausführlich dargestellt. Und auch der Winterplanet Gethen wird detailliert und sehr atmosphärisch geschildert. Genly Ais Wanderung durch das ewige Eis ist ein gelungener Abenteuer-Roman. Technik, Waffen und fremde Völker kommen natürlich vor, spielen aber eine sehr untergeordnete Rolle. Dank des interessanten Unterbaus wird Die linke Hand der Dunkelheit so zu einem interessanten SciFi-Roman auch für Leser*innen, die sonst einen Bogen um das Genre machen.


tl;dr: Der Botschafter Genly Ai soll auf dem Winterplaneten Gethen neue Verbündete für eine interplanetare Ökumene gewinnen. Die völlig geschlechtslosen Bewohner*innen im ewigen Eis stellen ihn vor einige Herausforderungen. Mit wenig Technik und tiefgehender Handlung ein gelungener Sci-Fi Roman, der nicht nur Fans des Genres überzeugen kann.


Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit. Übersetzt von Gisela Stege. Heyne 2014. 396 Seiten. Originalausgabe: The Left Hand of Darkness. Ace Books 1969.

Das Zitat stammt von S. 279-280.

Der Roman wird oft dem „Hainish-Zyklus“ zugeschrieben, dessen Existenz die Autorin allerdings bestreitet. Der Roman kann dementsprechend auch unabhängig von anderen Werken des Zyklus gelesen werden.

5 Gedanken zu “Diplomatische Mission im ewigen Eis – „Die linke Hand der Dunkelheit“ von Ursula K. Le Guin”

  1. Diesen Roman möchte ich auch noch lesen. Vor einigen Jahren habe ich mich Le Guins Roman „Freie Geister“ gewidmet. Ein tolles weil kluges und spannendes Werk, so dass ich die Autorin im Blickpunkt behalten will. Darüber hinaus will ich mir noch ihre fulminante Erdsee-Trilogie zulegen. Vielen Dank für die Erinnerung und viele Grüße

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  2. Buch steht bei mir im Regal und obwohl ich das Genre sonst sehr schätze, hab ich darum einen großen Bogen gemacht, danke für die aufmunternde Erinnerung.

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      1. Naja, Ursula K.L. ist sehr altmodisch, ein guter Lesekumpel meinte ich müsse sie unbedingt lesen, mein Mann hat es mir geschenkt mit den Worten das wäre ein Klassiker der SciFi und der Anfang fing mich nicht ein, seitdem steht es anklagend da. Es ist wohl besonders dieses müssen sollen, das mir bei Hobbys gegen den Strich geht.

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        1. Das kann ich gut verstehen. „Klassiker“, „unbedingt lesen“ und dann auch noch ein einstaubendes Geschenk – der Druck würde mich auch nicht motivieren.

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