Unbekannte Stimmen: „Mein Vietnam“

2017 rief das Goethe-Institut in Hanoi einen Wettbewerb ins Leben: vietnamesische Autor*innen, die bis dato wenig oder gar nicht veröffentlicht hatten, waren aufgerufen, Texte über Vietnam einzureichen. Aus mehr als 150 Einreichungen wurde die nun übersetzt vorliegende Auswahl getroffen.

Zehn Kurzgeschichten beschreiben das, was die Autor*innen als „ihr Vietnam“ verstehen. Auffallend viele der Texte kreisen um das Thema Familie, vor allem um die eher traditionellen Familienbilder. Einige der Geschichten bauen dabei eher auf humor- und liebevolle Erzählungen von charmanten Familienmitgliedern, andere werden brutaler, ernster und zum Teil beinahe surreal. So handelt beispielsweise die Geschichte „Brauchtum“ von Dang Thua Ha von einem Vater, der nach dem Tod seiner Frau verzweifelt versucht, das gemeinsame Kind zu retten. Nach dem Brauchtum des abgelegenen Dorfes müssen nämlich die Seelen von Mutter und Kind vereint werden, das Kind also mit der Mutter beerdigt werden. „Ein kleines Haus am Fluss“ von Nguyen Le Kim Yen hingegen beschreibt rührend die Beziehung eines westlichen Studenten, der ganz zufällig in einem winzigen Dorf landet und für eine Weile der Ziehenkel einer vereinsamten alten Frau wird.

„Es wird eine Vielzahl von Orten vorgestellt, von den Ebenen hoch in die Berge bis runter zum Meer, vom Land bis in die Städte Hanoi und Saigon. Es erzählt von Touristen, die ankommen und dann abreisen, von Kindern, die sich dafür entscheiden, in ihre Heimat zurückzukehren. Zum Glück nirgends eine Landschaftsbeschreibung, keiner erliegt der Versuchung, den Touristen den Mund wässrig zu machen.“

Der ganz überwiegende Teil der Erzählungen spielt in Dörfern auf dem Land. Die Großstadt, meist Hanoi, bleibt in den meisten Geschichten eine unbekannte Größe, drohender Moloch oder glitzernde Scheinwelt, fast immer aber der Ort, an dem die erwachsenen Kinder verschwinden und sich dann zu selten melden. Die Sammlung ist aber, bei aller Hinwendung zum Traditionellen, kein gefälliges oder exotisierendes Porträt des Landes, sondern Geschichten aus seiner Mitte. Fußnoten erläutern den nicht eingeweihten Leser*innen kulturelle Aspekte oder die Bedeutung verschiedener Bräuche.

Es ist ein verdienstvolles Unterfangen, diesen bisher nicht bekannten vietnamesischen Autor*innen im Aus- wie Inland Gehör zu verschaffen. Leider holpert manchmal die Übersetzung spürbar. In einigen Sätzen findet man Wörter, die zu viel sind, in anderen Sätzen fehlen sie dafür. Am Ende gleicht sich das vermutlich aus, dennoch hätte die Sammlung sicher etwas mehr Sorgfalt im abschließenden Lektorat verdient. Auch hätten einige Texte mehr erklärende Fußnoten verdient. Dennoch ist Mein Vietnam eine abwechslungsreiche und lohnenswerte Lektüre für alle, die sich für das Land und seine Menschen interessieren.


Goethe-Institut Vietnam (Hrsg.): Mein Vietnam. Erzählungen. Mitteldeutscher Verlag 2020. 220 Seiten.

Das Zitat stammt aus dem Vorwort von Nha Thuyen, S. 10.

Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.

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