Die Wasserglaslesung hat seit Jahren einen schlechten Ruf, tot zu kriegen ist sie aber trotzdem nicht. Vielleicht fehlt mir die nötige Ernsthaftigkeit, aber ich finde es auch total öde, jemandem zuzugucken, wie er oder sie eine Stunde so was vorliest und gelegentlich einen Schluck aus dem in Verruf geratenen Wasserglas trinkt. Autor*innen sollen und müssen trinken, bei warmem Wetter bis zu drei Liter am Tag. Aber das ist ja nun kein kulturelles Highlight. Zum Glück denken verschiedene Leute über verschiedene Wege nach, Lesungen interessanter und vielfältiger zu machen. In Bremen bringt nun „Out Loud“ ein neues Veranstaltungsformat auf die Bühne, bei dem auch das Publikum gefordert ist. Per Smartphone kann man sich nämlich direkt an der Lesung beteiligen.
Den Anfang machte am 23. August Emilia Smechowski mit ihrer allerletzten Lesung aus Wir Strebermigranten. Das Buch ist vor zwei Jahren erschienen und erzählt vom Umzug der Familie Smechowski von Polen nach Westberlin und ihren Anpassungsbemühungen in dem, was einmal die neue Heimat werden soll. Gleich zu Beginn durfte das Publikum schon das erste mal darüber abstimmen, was man selbst mit Polen in Verbindung bringt. Möglich macht das eine Software, über die alle Teilnehmenden ihre Stimme abgeben können. Die Ergebnisse werden dann für alle sichtbar auf eine Leinwand projiziert – oder zumindest für fast alle sichtbar. Ich saß hinter einer Säule und musste meinen Sitznachbarn Jan Küstenkopf fragen. Deswegen gibt es auch keine Bilder der Projektionen während der Veranstaltung, aber ihr alle habt schon mal gesehen, wie Schrift an eine Wand geworfen wird, ihr könnt es euch sicher vorstellen.

Während der Lesung konnten über dieses Tool auch Fragen gestellt werden, von denen Moderatorin Katharina Guleikoff einige aufgriff und mit Emilia Smechowski diskutierte. Die Teilnahme über das Smartphone finde ich eine total großartige Möglichkeit, weil es unter anderem diesen einen Typen ausbremst, der irgendwie immer da ist, aufsteht wenn man Fragen stellen darf und einen achtminütigen Kommentar über irgendwas abgibt, aber keine relevante Frage stellt. Und die Zurückhaltenden, die niemals vor 100 Leuten was sagen würden, kriegen so auch eine Chance. Die Siebzigjährige zwei Plätze weiter fand es trotzdem „absurd“, aber die hat mein zweites Bier auch kritisch angeguckt. Ich bin ja froh, wenn ich während Kulturveranstaltungen legitimiert mit meinem Smartphone spielen und Bier trinken kann.
Beides kann man bei „Out Loud“, und nicht nur deshalb möchte ich diese Reihe allen Bremer*innen ans Herz legen. Das Programm ist nämlich auch sehr cool. Organisatorin Katharina Mild hat bis Ende des Jahres noch drei Autorinnen eingeladen, die über gesellschaftsrelevante und aktuelle Themen sprechen und aus ihren Büchern lesen. Dass es nur Frauen sind, ist erst einmal dem Zufall geschuldet, trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass Frauen sowohl auf Diskussions-Bühnen als auch im Sachbuchbereich unterrepräsentiert sind. Das soll mit dieser Reihe geändert werden. Mareice Kaiser kommt im September mit ihrem Buch Alles inklusive nach Bremen und spricht über Inklusion und Pränataldiagnostik, im Oktober folgt Franziska Seyboldt mit Rattatatam, mein Herz, einem Buch, das Angstzustände behandelt. Am letzten Termin des Jahres im November berichtet Juna Grossmann, Autorin von Schonzeit vorbei, über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus. 2020 ist eine Fortsetzung der Reihe geplant.
Wer nicht nach Bremen kommen kann, ist (generell) zu bedauern, hat aber immerhin die Möglichkeit, sich die Veranstaltungen als Podcast anzuhören. Ab Ende der Woche soll der erste Podcast online gehen. Der ist dann, ebenso wie alle anderen Infos zu der Veranstaltungsreihe, auf outloud-bremen.de zu finden.
Was für eine coole Veranstaltungsreihe und zudem direkt „umme Egge“: Muss ich mir unbedingt merken! Aber trotzdem mag ich auch die Wasserglaslesungen in meiner Stammbuchhandlung, auch wenn ich mir manchmal – je nach Vor-Leser bzw. Publikum – vorkomme wie in einem Sketch von Loriot: „Krawel! Krawel! Tautrüber Hein im Musenginst!“ 😄
Lieben Gruß
Andreas
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Kohlrabi. Gedündesten Kohlrabi mit Fischstäbchen und Remoulade.
Das Talent zum interessanten Vorlesen ist ja auch nicht allen Autor*innen gleichermaßen gegeben. Was mir bei dieser Veranstaltung auch gut gefallen hat, war dass eben auch viel über das Thema an sich gesprochen wird, was es auch nochmal von einer „normalen“ Lesung unterscheidet.
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Der große Meister schaut gerade auf uns herab und lächelt leise…! 😊
Das stimmt: Wir haben auch schon in so einigen Lesungen gesessen und uns eine Pause gewünscht (zum unauffälligen Verschwinden). Ich werde diese interessante Veranstaltungsreihe auf jeden Fall im Blick behalten!
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Ah, im Lagerhaus, sehr schön! Da habe ich immer Fußball geschaut, aber zu der Lesungsreihe wäre ich auch gekommen. Ja, es ist zu bedauern, wer es nicht nach Bremen schafft. Ich zum Beispiel 😦
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Dich bedauere ich extra!
Im Lagerhaus hab ich schon viel gesehen, aber Fußball noch nie!
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Hallo,
den Begriff ‚Wasserglaslesung‘ kannte ich noch nicht, obwohl ich schon auf einigen Lesungen war, die dieser Definition entsprachen! Es gibt Autoren, denen könnte ich den ganzen Tag zuhören, wie sie aus ihren Büchern lesen, Wasserglas hin oder her – bei anderen denke ich mir dann schon: da hätte ich auch zuhause bleiben und das Hörbuch hören können…
Ich habe mich einige Jahre gegen die Anschaffung eines Smartphones gesträubt. Die Vorstellung, immer und überall erreichbar zu sein, verschafft mir immer noch ein leises Gefühl des Grauens! (Nein, ich bin nicht 70, wirklich nicht.) Der einzige Grund, warum ich mir dann doch ein Smartphone angeschafft habe, war, um damit immer und überall per App Hörbücher hören zu können. (Nein, nicht Audible.) Daher muss das Konzept von „Out Loud“ bei mir erstmal den inneren Widerstand überwinden… 😉
Aber es hat schon seine Vorzüge, das muss ich zugeben! Vor allem die Austricksung des Achtminutenlaberers…
LG,
Mikka
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