Sinnsuche zwischen Nadelbäumen: „Die Kieferninseln“ von Marion Poschmann

Gilbert Silvester, aktuell Bartforscher in befristeter Anstellung, träumt eines Nachts, dass sein Frau ihn betrogen habe. Ohne weitere Klärung verlässt er am nächsten Morgen tief erschüttert die gemeinsame Wohnung und fährt zum Flughafen, wo er in das nächste Flugzeug steigt, das zu einem weit entfernten Ziel fliegt. So kommt er nach Tokyo. Freiwillig hätte er das nie gemacht, da er Tee-Kulturen meidet, weil sie, seiner Einschätzung nach, alles verkomplizieren und unter einem Schleier der Mystik verbergen. Dass er es nun doch tun muss lastet er klar seiner Frau an, die derweil zu Hause sitzt und sich fragt, wo ihr Mann abgeblieben ist.

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In Tokyo bleibt Gilbert nicht lang allein. Während er fasziniert das perfekt organisierte Treiben an einem Bahnhof beobachtet, trifft er auf Yosa Tamagotchi, den er mit völlig unbeherztem Eingreifen von einem Selbstmord eher ablenkt als abhält. Der Bahnsteig sei sowieso ein nur drittklassiger Ort für einen Selbstmord, erklärt Yosa und schließt sich Gilbert an, der den Plan entwickelt, auf den Spuren des Haiku-Dichters Bashō nach Matsushima, zu den Kieferninseln zu reisen. Überhaupt die Kiefern und die Wälder – sie spielen eine wichtige Rolle auf den japanischen Inseln und auch in diesem Roman. Gilbert erscheint es geradezu sinnlos, die Wuchsform der Bäume und die Form einzelner Äste zu bestaunen. Anders die Autorin. Sie begeistert sich für die Landschaften, durch die die beiden Männer reisen und beschreibt sie bis ins Detail.

„Kiefern, als sähe man sie zum ersten Mal. Kiefern in gleißendem Nachmittagslicht, nur eine Aussparung, ein vages Schwarz in unablässigem Blinzeln. Kiefern, ihr Schatten, langgestreckt über dem Weg.“

Die Kieferninseln leben von den Naturbeschreibungen und dem unaufdringlichen Humor. Gilbert verachtet die japanische Kultur nicht, steht ihr aber skeptisch gegenüber und kommentiert sie aus einer kritischen Distanz. Beleidigend wirkt dies nie, da seine Kommentare eher sein eigenes Unverständnis als tatsächliche Fehler der Kultur offenlegen. Aber wie soll ein Bartforscher auch eine Kultur verstehen, in der der Bart von so geringer Bedeutung ist? Vor allem, wenn er in Begleitung eines Mannes reist der, aus Ermangelung eines eigenen Bartwuchses, ein Set mit Aufklebe-Bärten bei sich führt. Doch bei all der Skepsis kann Gilbert sich der Faszination der fremden Kultur nicht entziehen. Besonders die Haiku-Dichtung hat es ihm angetan und er versucht sich auch einige Male selbst darin. Ein Heimspiel für die Autorin, die sich vor allem als Lyrikern einen Ruf erarbeitet hat. Den poetischen Ton legt Poschmann auch in diesem Roman nicht ab, was aber keinesfalls ein Nachteil ist.

Die Kieferninseln ist ein vielschichtiger Roman, in dem das Verhältnis von Tiefgründigkeit und Humor perfekt ausbalanciert ist. Dank des Stils der Autorin wird die Sinnsuche Gilberts zu einem plastischen Reisebericht über die japanischen Inseln. Auch die verhältnismäßige Kürze des Romans trägt dazu bei, dass dieser Roman wirklich ein kondensiertes Lesevergnügen ist.


Marion Poschmann: Die Kieferninseln. Suhrkamp 2018. 164 Seiten, € 10,-. Originalausgabe 2017.

Das Zitat stammt von S. 101

11 Gedanken zu “Sinnsuche zwischen Nadelbäumen: „Die Kieferninseln“ von Marion Poschmann”

  1. Ich war von dem Buch nicht sonderlich begeistert, und das liegt vor allem an der schwachen Integration der an Basho anklingenden „poetischen“ Passagen mit den modern-gebrochen-sozialkritischen. mE wird das Lob der „Poetischen Sprache“, das damals die Presse dominierte, dem Roman auch nicht wirklich gerecht, obwohl die an Basho anklingenden Passagen sich sehr hübsch lesen. Aber das dem Roman als Ganzem zuzuschreiben homogenisiert den vielleicht interessantesten Widerspruch, den Poschmann in ihrem Werk angelegt hat. Denn mE sind die ultra-nüchterne Exposition, die mehr aktenkundig gemachte als wirklich erzählte Zumutung des modernen Japans für Gilbert, bewusst jenen Momenten der doppelten Reise gegenübergestellt, in denen die Reisenden auf Bashos Spuren wandeln (der seinerseits wiederum auf den Spuren Saigyos wandelte). Gut ausgedacht ist die Errichtung einer modern-faktischen und vormodern mystisch-subtilen Sprachdichotomie (ausformuliert auf S.150) in jedem Fall. Aber mE hat Poschmann für das Modern-Faktische nicht wirklich eine auch auch literaturfähige Sprache gefunden. In der platten Behandlung des Kontrastes verfällt Poschmann leider letztlich doch ganz der im Roman sonst monierten Unsubtilität zeitgenössischer westlicher Rede.
    Trotzdem hat das Buch seine gelungenen Momente, insbesondere auch auf der Seite des Absurden: Die Selbstüberschätzung, nach der Gilbert sich während der Reise dazu aufschwingt, den suizidalen Yaso unter anderem im richtigen Haikuschreiben, im Buddhismus und überhaupt darin, was es heißt „Japaner zu sein“, zu belehren, wird konsequent durchgehalten und ist ein willkommener Kontrast zu klassisch spirituellem Sinnsuche-im-Osten Kitsch.

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    1. Erst konnte ich tagelang nicht tippen, jetzt weiß ich nicht mehr genau, was ich sagen wollte.
      Ich finde aber tatsächlich, dass gerade die fehlende Subtilität im Kontrast gelungen ist. Das ist meiner Meinung nach gerade das, was verhindert, dass das alles in einer Coelhoesken Wallfahrt zum Sinn des Lebens endet.
      Dazu gehört natürlich auch die von dir erwähnte Selbstüberschätzung und Abschätzigkeit Gilberts gegenüber der japanischen Kultur und überhaupt allen Teekulturen, die ihm ja auch bis zum Ende erhalten bleibt. Diese Abschätzigkeit legt er ja aber auch gegenüber Aspekten westlicher bzw. globaler Kultur zu Tage.
      Ich glaube, ich wollte noch mehr sagen, möglicherweise kommt es irgendwann wieder.

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      1. Dass eine zu subtile Behandlung des Kontrastes auch wieder Kitschgefahr bedeutet hätte, stimmt natürlich. Dennoch hätten mE die „modernen“ Passagen lesenswerter gestaltet werden können, auf mich wirkten die weniger kühl/brechnet als vor allem langweilig.

        Das mit deinem Arm hatte ich schon fast wieder vergessen… gute Besserung weiter, das Foto sieht ja heftig aus.

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        1. Ich fand die super! Ich sehe aber auch, warum man die langweilig finden kann. An einigen Stellen kam ich auch deutlich schlechter voran als an anderen.
          Und der Arm ist auf dem Wege der Besserung. Es tut nicht mehr durchgehend weh, dafür sind die Farben spektakulär! Es ist auch eine Art der kontemplativen Naturbetrachtung. Leider fehlt mir das Talent für Haikus.

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            1. Die meisten blühen wohl früh, ein paar aber immerhin im Juni. Und genau erkannt: Die Kornblume hat mir das Leben schwer gemacht grad. Und die Wegwarte ist auch nicht besser, dahingehend 😉

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