Hilary Mantel: Wolf Hall

Thomas Cromwell spielt in der englischen Geschichte als Wegbereiter der anglikanischen Kirche und bedeutender Berater Henry VIII eine große Rolle. Allerdings taucht er in der Geschichtsschreibung oft als dunkle, geheimnisvolle und oft eher böse und intrigante Figur auf. Mantel weist daraufhin, dass die Wahrnehmung dieses Mannes bis zum viktorianischen Zeitalter eine ganz andere und deutlich positiver war. Erst zu dieser Zeitpunkt begann das Bild des „Emporkömmlings“ ins negative zu kippen. Anders als die meisten anderen Menschen im majestätischen Umfeld hatte Cromwell seine hohe Position nicht qua Geburt sondern durch harte und gute Arbeit erlangt. Als Sohn eines Schmiedes hatte er Jura studiert, war durch Europa gereist, hatte bemerkenswerte Kunstkenntnisse erlangt und mehrere Sprachen erlernt. Er war ein enger Vertrauter Henry VIII und hatte im Laufe der Jahre mehrere wichtige Ämter in dessen Umfeld inne. In diesem Roman tritt er vor allem auch als Vertrauter Anne Boleyns auf, der zweiten Frau des Königs. Cromwell war maßgeblich daran beteiligt, die Abspaltung der anglikanischen Kirche von der katholischen voranzutreiben und so letztendlich eine Ehe zwischen Boleyn und Henry zu ermöglichen. Wenig verwunderlich, dass er sich mit dieser Aktion nicht nur Freunde machte.

A world where Anne can be queen is a world where Cromwell can be Cromwell.

Trotz seiner wichtigen Rolle ist Thomas Cromwell oft nur eine Randnotiz und sein persönliches Leben spielt in der klassischen Geschichtsschreibung so gut wie nie eine Rolle. Diese Lücke schließt Mantel mit ihrem Roman Wolf Hall, dem ersten von drei Romanen, die sich mit Cromwell befassen (der dritte ist allerdings noch nicht erschienen). In einem Anhang zum Roman berichtet Mantel, dass sie schon lange von dieser historischen Figur fasziniert war. Die Recherche zu diesem Roman allerdings war eine Herausforderung und ziemlich mühsam – für Cromwell hatte sich einfach zu lange niemand mehr interessiert.

Mantel_WolfHall

Was sie gefunden hat, reicht aber trotzdem für drei dicke Romane, von denen zumindest der erste durchaus schlüssig scheint. Ich bin mir sicher, dass Wolf Hall ein objektiv sehr guter Roman ist, ich aber habe wahnsinnig mit ihm gekämpft. Mantel reiht Szene an Szene an Szene und konnte mich damit beim besten Willen nicht in ihren Bann ziehen. Bei mir kam beim Lesen kein großes Interesse auf und schon gar keine Spannung. Die Bilder, die in meinem Kopf entstanden – wo sie überhaupt entstanden – erinnerten mich an diese grauenhaft steifen Geschichts-Dokus, die manchmal auf öffentlich-rechtlichen laufen und in denen Darsteller in schicken Kostümen und übertriebenen Gesten steife Abbilder geschichtlich bedeutender Momente nachstellen, während der immer gleiche Sprecher im Präsens erklärt was passiert: Noch in der gleichen Nacht reitet Cromwell zum König [Mann mit Kapuze auf Pferd, Nebel] und überbringt ihm die wichtige Nachricht persönlich [Mann mit Kapuze gibt Mann mit rotem Umhang aufgerolltes Stück Papier]. Dabei sind viele dieser Szenen total gut und oft sehr charmant und witzig und oft, glaube ich, sehr nah an dem, was tatsächlich passiert ist.

Vor allem ist es im Grunde sehr interessant, die Geschichte mal mit einem anderen Schwerpunkt und aus einer anderen Perspektive zu lesen. Gerade Cromwells recht tragisches Familienleben ist sehr ausführlich und beinahe rührend geschildert. Als ich das Buch nach zwei Monaten (!) endlich fertig hatte, habe ich nochmal ein bisschen darin hin und her geblättert und habe ein paar ganz tolle Szenen gefunden. Das Problem war leider, dass ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnern konnte, diese Szenen schon mal gelesen zu haben. Sicher lag das an der wahnsinnig langen Zeit, die ich zum Lesen gebraucht habe. Sicher lag es auch an den unfassbar vielen Personen, die in diesem Roman auftauchen. Dabei ist es meine Lieblingsepoche englischer Geschichte! Da passiert so viel und vieles davon ist völlig bescheuert und allerbester Romanstoff! Nicht umsonst sind die Tudors beliebter Stoff nicht nur öffentlich-rechtlicher Geschichts-Dokus, sondern auch Inhalt zahlreicher Romane und TV-Serien.

Und soll man das jetzt trotzdem lesen? Ich finde schon. Ich glaube, dass Wolf Hall ein objektiv echt guter Roman ist, durch den man sich aber manchmal auch durchbeißen muss. Wer ein bisschen Interesse an Geschichte oder historischen Romanen hat, wird aber sicher viel Freude mit diesem Buch haben. Und keine Sorge: ganz am Anfang gibt es ein Verzeichnis handelnder Personen.


Hilary Mantel: Wolf Hall. Fourth Estate 2010. Originalausgabe Fourth Estate 2009. Deutsche Übersetzung unter dem Titel Wölfe von Christiane Trabant bei Dumont lieferbar.

Das Zitat stammt von S. 205.

2010 war Mantel mit diesem Roman auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.

12 Gedanken zu “Hilary Mantel: Wolf Hall”

  1. Sehr beruhigend. Mir ging es mit dem Buch ähnlich. Ich dachte, dass es eigentlich gut geschrieben ist, das Lesen war aber weder Spass noch Freude oder ähnliches.
    Eine Freundin von mir hat zuerst die BBC-Serie gesehen und dann das Buch gelesen und fand es sehr gut. Vielleicht ist das ein besserer Zugang?!

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    1. Mir steht ja auch noch Teil 2 bevor – dazwischen könnte ich ja mal die Serie gucken, vielleicht bringt es ja was.
      Zwischendrin mochte ich das Buch total gern, dann gab es so dreißig, vierzig Seiten in denen es echt gut lief und ich dachte „ja, okay, jetzt bin ich endlich drin“, aber die Freude hielt leider nie lange. Sehr, sehr mühsam das ganze.

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    1. Das beruhigt mich! Alle Besprechungen die ich gelesen habe, waren so voll des Lobes, dass ich ein bisschen an mir gezweifelt habe.

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  2. Ich habe mich auch tapfer durch beide Teile gekämpft und ja, mir ging es genauso wie dir. Gut geschrieben aber so richtig mitgerissen hat es mich nicht.
    Ich war nur froh, daß ich davor „Die Tudors“ gesehen hatte. So hatte ich wenigstens ein Gesicht für die meisten Namen vor Augen. Ansonsten wäre ich komplett verloren gewesen, soviel Personal wie da aufgefahren wird!

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    1. Vielleicht wäre das gut gewesen. Ich konnte die Leute zwar auseinander halten, hatte aber nie irgendein Bild vor Augen. Weder von den Handelnden, noch von den Räumen etc. Ich erinnere mich aber schon nicht mehr, ob sowas wirklich beschrieben war…

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  3. Auch mir geht es mit Hilary Mantel ähnlich: Ich habe mich durch Teil 2 gekämpft und hatte ständig das Gefühl, ein bisschen „daneben“ zu stehen. Das einzige, was mir geholfen hat, ist mein Hintergrundwissen über die Zeit von Henry VIII. Da waren auch für mich „Die Tudors“ recht hilfreich, auch wenn die Serie z.B. vor den Augen der britische Historikerin Alison Weir keine Gnade findet. Und die wiederum schreibt hervorragende historische Sachbücher, aber ihre historischen Romane – na ja…
    Es gibt übrigens eine tolle Verfilmung von Teil 1 und Teil 2, die ebenfalls den Titel Wolfhall trägt: sehr packend und in eindringlichen Bildern, aber um der Geschichte folgen zu können, geht es wieder fast nicht ohne Hintergrundwissen. Mein Fazit: Literarische Kunst auf höchstem Niveau, aber nur für History Buffs zu erschließen.

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    1. Ja, ich glaube, diese Verfilmung sollte ich mir vor Teil 2 mal ansehen. Von den Tudors habe ich nur ein Folge gesehen und mochte es nicht so sehr, Alison Weir aber mag ich gerne. Allerdings wusste ich gar nicht, dass sie auch Romane schreibt. Die Sachbücher die ich von ihr kenne, fand ich immer irre detailliert, dabei aber auch sehr lesbar.

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